Essen

Bei fast allen unangenehmen Beschäftigungen wie Wandertag, Trauerfeier oder Arbeitsalltag schafft der Blick auf die nächste Mahlzeit Vorfreude und Entlastung. Das gilt fürs Krankenhaus in noch höherem Maß. Nur die Wenigsten genießen hier wirklich den Tagesablauf. Die Mittagsmahlzeiten, die man sich zuvor als noch nicht Operierter ausgesucht hat, entsprechen durchschnittlicher Kantinenkost, erzeugen also kurze Momente der Beglückung. Bei den kalten Randmahlzeiten am Morgen und Abend sieht es anders aus: Auf der Vorauswahlkarte hatte ich bei den Wurst- und Käsekästchen je eine 1 notiert. Ich ging dabei von Portion, nicht aber von Scheibe aus. Das Wenige, was ich nun hatte, sah wursttechnisch nicht unbedingt lecker aus. Die Käsescheibe – es war über die Tage hinweg immer die gleiche – erinnerte in ihrer Transparenz und mikrometergleichen Schichtung an feuchtes Pergamentpapier. Immerhin kam der Tee fast jeden zweiten Tag mit der bestellten Milch. Manchmal fehlten die gestanzten Vollkornbrotscheiben zum Brötchen. Manchmal aber auch nicht.
Morgens und abends wurde mir das Essen auf einem Tablett serviert, häufiger falsch als richtig herum. Ich buchte das unter dem Motto „fremde Länder, fremde Sitten“ ab. Ohne das Personal mit Migrationshintergrund hätte ich wohl nicht einmal halb so viel Aufmerksamkeit und Hilfe erfahren. Vielleicht trinkt man in einer jener Kulturen, aus denen die mich umsorgenden Pflegerinnen und Hilfskräfte stammen, den Tee vor Frühstück und Abendbrot? Auch hierzulande gab es ja eine Bewegung, die das Trinken zum Essen als magenunfreundlich skandalisierte. An meinem vorletzten Liegetag fasste ich mir dennoch ein Herz und versuchte einem der mich umsorgenden Geister zu erklären, dass es viel patientenfreundlicher wäre, den Teller vorne links vor sich zu haben, das Besteck rechts daneben und Kanne und Tasse dahinter. Leider konnte ich im Anschluss keinen Funken des Verstehens bei meinem Gegenüber erkennen. Ich erinnerte mich an eines der Grundgesetzte der Kommunikationswissenschaft: „Der Sender ist dafür verantwortlich, dass eine Nachricht ankommt.“ Also mein Fehler und mein Problem.

Erste Schritte

Am folgenden Tag schaffe ich das Aufstehen tatsächlich ganz alleine. Die erlernte Technik, das intakte Bein seinen Zwilling mit vom Bett schieben zu lassen, hilft. Aber vor allem hat der Genesungsprozess (oder wie auch immer man das nennen will) Fortschritte gemacht. Der Mensch isst, schläft, liest, dackelt vor sich hin, und der Körper übernimmt in aller Stille die großen Reparatur- und Anpassungsarbeiten. Danke, Körper!
Auch der umgekehrte Weg – vom Boden aufs Bett – ist nun machbar, da das gesunde Bein als Kran unter den Unterschenkel des frisch behandelten Beins greifen kann und die Last auf das Bett und dort auch noch Richtung Mitte zerren kann. Also ein Ausflug – vielleicht sogar aus dem Zimmer hinaus in die weite Welt der Krankenhausgänge.
Linke Krücke und rechtes Bein…rechte Krücke und..rech, nein. Nochmal von vorne: mein Blick fällt streng auf das Fußpaar. Also: rechtes Bein und linke Krücke, linkes Bein und rechte Krücke, rechtes Bei und…Ende Gelände. Das Bett steht im Weg. Vorbeikommen ist nur mit seitlichen Trippelschritten möglich. Eins, zwei, eins. Eine Krücke fällt mit Gepolter zu Boden. Mist. Mit einer Hand am Bett festhalten, die andere Krücke umdrehen und nach dem verlorenen Stock angeln. OK. Rechtes Bein und linke Krücke, linkes Bein und rechte Krücke. Rechtes Bein,..wie jetzt? So schwer ist es doch nicht. Aber die Pillen zeigen ihre Nebenwirkung. Das hübsche Schächtelchen mit den vier Abteilungen morgens, mittags, abends, nachts kommt jeden Morgen mit zwölf Pillen im Modus vier, drei, drei, zwei vor dem Frühstück auf das Behelfstischchen. Sie schlichten das Schmerzaufkommen, reduzieren die Entzündungen im Körper und schonen die Magenwand. Aber sie machen auch müde und senken die koordinativen Fähigkeiten. Jede Münze hat zwei Seiten. Auf die Schmerzen verzichtet man gerne. Das Denken wird sich ja hoffentlich wieder erholen. Linke Krücke, rechtes Bein, rechte Krücke, linkes Bein, rechtes Bein und linke Krücke: die Morgenrunde um die Krankenstation kann starten. Nein, halt! Ich hab die Maske vergessen. Zurück auf Anfang.

Mann blickt mit geöffneten Armen aufs Meer

   Ach Welt, was bist Du schön!                                                                                  Bild von Pexels auf Pixabay

Hoch hinaus

Lässig drücke ich mit dem Krückenende auf das Tastenfeld des Fahrstuhles. Die Dachterrasse ist ein Traum. Unten gleitet der Fluss in dezenter Entfernung langsam von links nach rechts hinten vorbei. Man krückt über schwarze Marmorplatten, die ein großes Feld von dunklem, asiatischem Holz (oder dessen überzeugendem Imitat) umranden. Hochbeete mit Steppen- oder Tundrapflanzen – wer kann das bei der herrschenden Trockenheit schon unterscheiden? – geben dem Blick einen Zwischenhalt. Die Terrasse wird von grosszügigen Glaselementen umspannt, bekränzt von einer dünnen Metallleiste. Inseln im Fluss mit müßigen Booten zwischen ihnen und Windräder am Horizont malen ein hübsches Bühnenbild aus friedfertigem Miteinander von Natur und Kultur. Buchen und Akazien fingern von unten gen Terrasse, ohne ihre Majestät gefährden zu können. Jedoch verdecken sie an einigen Stellen den geraden Süd-Blick auf den Fluss. Mensch mit Implantat, wo magst Du Dich regenerieren, wenn nicht hier?
Doch wo nehm´ ich Platz? Dreierlei Gestühl verrät den edlen Geschmack des Dachterrassenausstatters: Stühle mit Lochmuster, die metallen erscheinen und in drei dezenten Farbtönen das Setting beleben. Dreiviertelkugeln aus Weidengeflecht und schwere, weiße Parksessel streiten darum, wer den tieferen Einstieg bietet. Aber hier ist kein Fahrertreff von Sportwagenfanatikern. Als Frischoperierter kann man nur stehen und staunen: bis ich in diesen Augenschmeichlern wieder Platz nehmen kann, werden Tage, wenn nicht Wochen vergehen.
Schade eigentlich. Aber Bewegung ist ja ohnehin für Neuimplantatbesitzer gesünder als elegantes Rumsitzen.

Entlassungstag

Das Paralleluniversum Krankenhaus hat beschlossen, dass es Zeit für mich ist, die Station zu verlassen. Und das sehr schnell.
Um 07.05 Uhr werde ich geweckt. Ein Pfleger bringt mir meine Tagesration von zwölf Pillen. Im Frühstücksfach liegen wie gewohnt vier. „Kann ich die anderen in einer Schachtel mitnehmen?“
„Selbstverständlich. Nehmen Sie sich doch gleich die Schale mit, dann können Sie besser Ihre Portionen aufteilen.“
„Wie nett von Ihnen!“
Durch die offene Zimmertür kommt eine Pflegekraft:
„Guten Morgen! Ihr Frühstück ist da.“
Zum letzten Mal blicke ich durch die Käsescheibe hinaus in den schon gleissend hellen Morgen.
Ich habe noch nicht einmal meine erste Brotscheibe mit Butter versehen, da kommt der Assistenzarzt mit seinem Geschenkbeutel: Entlassungsbericht und Medikamente für die nächsten Tage sowie ein letzter Pflasterwechsel mit aufmunterndem Kommentar: „Na, das sieht ja richtig gut aus. Die Thromboseprophylaxe müssen Sie noch einen Monat lang nehmen. Ansonsten ist bei Ihnen alles klar. Sollten Sie wider Erwarten Probleme mit der Naht bekommen, melden Sie sich bitte bei uns. Andere können das natürlich auch, aber wir würden die notwendige Wundspülung schon lieber selber machen.“
Ich bin froh, dass hier Verantwortung offensichtlich nachhaltig interpretiert wird, „Gerne, mach ich.“
Ich frühstücke zu Ende und packe meine Sachen. Eine nette Schwesternhelferin bringt mir meinen Kram nach unten, während ich mich, Krücken zum Gruß erhoben, von den guten Geistern des Hauses verabschiede. Der Fahrstuhl surrt mit mir nach unten. Ein letzter langer Gang, rechtes Bein, linke Krücke, rechtes Bein, linke Krücke. Dann stöcker ich am Empfang vorbei durch die Drehtür nach draußen. „Welt, Du hast mich zurück!“

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