Musizieren hält unseren Kopf fit

Musizieren hält unseren Kopf fit

Dass geistige Anregung eine gute Brandmauer gegen Alzheimer und Demenz darstellt, hat sich rumgesprochen. Auch hier wurde schon davon berichtet, dass Musikhören auch im Alter eine heilsame Wirkung hat. Nun haben Forschende der Universität Exeter festgestellt, dass aktives Musizieren (am wirksamsten auf dem Klavier) oder Singen (am besten im Chor) eine Art Schadenfreiheitsversicherung für das alternde Gehirn darstellen.

An der seit zehn Jahren laufenden Online-Studie „Protect“ haben sich 25.000 Menschen beteiligt. Die Studie belegt, dass aktives Musizieren die Gedächtnisfähigkeit unseres Gehirns stärkt. Gleiches lässt sich über die Fähigkeit, komplexe Aufgaben zu lösen, festhalten. Beim Chorsingen – so macht die Studie klar – ist nicht genau messbar, welche positiven Effekte allein der Musik oder dem sozialen Miteinander des Chors zuzurechnen sind. Hochwahrscheinlich ist es gerade die Mischung, die das Gehirn der Singenden positiv unter Strom hält.

Klavier mit offenem Notenhefr

Es muss ja nicht gleich Beethoven sein

Die Förderung der musikalischen Bildung bzw. die Schaffung niederschwelliger Möglichkeiten für Ältere, zur Musik zurückzukehren, liegen damit ganz offensichtlich im Interesse der öffentlichen Gesundheit. Aber ehe man auf Klavierunterricht im Seniorenheim wartet, sollte man wohl besser selbst tätig werden. Chöre gibt es wohl noch in jeder deutschen Stadt. Und Noten en gros im Internet.

Verunglückte Anmerkungen zur Musiktherapie

Verunglückte Anmerkungen zur Musiktherapie

Deutschlands ehemaliger Literaturpapst, Marcel Reich-Ranicki, gab unter vielen anderen auch zwei Sammlungen seiner eigenen Buchkritiken heraus. Die eine trägt den Titel Lauter Lobreden die andere Lauter Verrisse. Beide sind etwa gleich umfangreich und zum gleichen Preis auf dem Markt erschienen. Auch, um sich des Vorwurfs zu erwehren, er würde Literatur am liebsten verreißen, wies Reich-Ranicki später darauf hin, dass der zweite Band mehr als doppelt so oft verkauft wurde wie sein positives Pendant. Es gibt die Freude am Verriss. Auch das Negative hat – gerade in den Augen des Publikums – seine Legitimation.

Warum nun diese umständliche Einleitung? Die Bücher, die ich im Laufe der Jahre in diesem Blog besprochen haben, kamen alle mit der Schulnote drei oder besser davon. Das verdankt sich vor allem der Tatsache, dass ich ja Empfehlung geben möchte, was zu lesen sich tatsächlich lohnt. Anders als in der Literatur ist bei Fachbüchern leichter begründbar, warum sie ihr Ziel nicht erreicht haben. Nun flatterte mir etwas auf den Schreibtisch, was vom Eigenanspruch her unbedingt gelesen werden möchte, und dennoch bestenfalls sehr spezifisch weiterempfohlen werden kann. Im Interesse der subjektiven Wahrheitsfindung hat der Verriss auch hier mal seinen Platz. Die Rede ist von:

Wormit et al.: Musiktherapie in der geriatrischen Pflege.
Ein Praxisleitfaden.
Ernst Reinhardt Verlag München. 2020.

Im Vorwort heißt es: „Der Leser kann einzelne Kapitel im Sinne von Fachartikeln oder auch systematisch interessengelenkt lesen.“ Bei einem „Praxisleitfaden“ sollte von Beginn an glasklar sein, wer ihn denn für seine Praxis brauchen könnte. Der Musiktherapeut, der Seniorenheimbewohner? Dessen Angehörige? Die Heimleitung? Das Pflegepersonal? Na ja, im Prinzip wendet sich das Buch – ohne es zu sagen – je nach Kapitel an alle. Aber die professionelle Lesergruppe der Musiktherapeuten hat einen komplett anderen Wissenshintergrund als gutwillige Angehörige, die meinen, dass Muttern doch zuhause immer gerne Elvis aufgelegt habe. Das Buch versucht niemanden direkt anzusprechen und ist so auch für niemanden eine „praktische“ Hilfe. Die von unterschiedlichen Autoren (-paarungen) verfassten acht Kapitel differieren in Sprache und vorausgesetztem Wissen weit möglichst. Im Kapitel 4 (Wissenschaftliche Perspektiven zu Musiktherapie mit älteren Menschen) stolpert man alle paar Zeilen über in Klammern gesetzte Literaturhinweise. In Kapitel 5 (Der Musiktherapeut) werden psychologische Basics wie Gesprächstechniken angesprochen. Mit diesen aber hat sich jeder Musiktherapeut – um den es ja laut Kapitelüberschrift hier geht – bereits in seiner Ausbildung intensiv beschäftigt. In Kapitel 6 (Musiktherapeutischer Interventionskatalog) endet jedes Unterkapitel sinnig mit „weiterführender Literatur“ und einem Alltagsbeispiel. Das Lektoriat hat qua Arbeitsverzicht oder Überforderung nicht einmal eine formale Homogenisierung dieser Bausteine gewagt. Aber auch inhaltlich ist Kopfschüttteln angezeigt: In Kapitel 5 wird intensiv dazu geraten, die Patienten möglichst in ihrer je eigenen Musikwelt abzuholen. Sehr schön! Aber am Ende des Kapitels wird unter „Weiterführende Literatur“ auf eine Liedsammlung der Evangelischen Heimstiftung aus dem Jahr 2002 verwiesen. Mein Gott! Die Menschen, die heute in Seniorenheime einziehen, sind mit Bill Haley, den Beatles und den Stones groß geworden. Die mit dem Kufsteinlied und den Caprifischern: das waren ihre Eltern! In Kapitel 8 (Zusammenfassung und Ausblick) wird zwar darauf hingewiesen, dass mit dem Einrücken der 68-er Generation der Musikgeschmack wohl ändern könnte. Aber hallo! Rudi Dutschke, einer der Väter der 68-er Bewegung war Jahrgang 1940. Teile der 68er sind längst in den Heimen angekommen, aber keiner der Autoren dieses Buches scheint dies mitbekommen zu haben.  Also ein Reader mit sehr heterogenen Beiträgen, die mühsam von Vorwort und Zusammenfassung gerahmt werden. Sicher, auf die eine oder andere Weise wird die Musiknutzung im alterstherapeutischen Umfeld positiv erläutert. Ob ihm dieser bescheidene Erkenntnisertrag nun 26,90 € wert ist, mag der geneigte Leser selbst entscheiden.

Jugend, Alter, Zauber: Roger Hodgson in der Alten Oper zu Frankfurt a. M.

Durch den Winterregen strömen die Menschen zum imposanten Musentempel am Opernplatz: Pärchen um die 60, Kleingruppen zu viert oder fünft. Kein Schlips, keine Lederjacken, keine langen Kleider, keine bunten Netzstrumpfhosen. Freundlich unscheinbare Menschen aus der Mitte der Gesellschaft. Weißliche Dampfwolken umgeben die Raucher auf den Stufen vor dem Einlass. Gemächlich geht es die Treppen aufwärts. Im haltlos verkorksten, kantinenhaften Interieur des Wartesaals werden Sektchen, Weine und ein paar Flaschen Bier zum entspannten Warten genommen. Es ist voll. Laut Internet gab es noch eine einzige Karte. 70 Euro für einen Platz mittlerer Güte bilden ein natürliches Selektionsmittel, da spielen die Getränkepreise auch keine Rolle mehr. 90% des Publikums gehört dem erweiterten Generationskreis der Baby Boomer an. Als Roger Hodgson und Supertramp 1979 Breakfast in America, das erfolgreichste Album dieser Mainstream Popband veröffentlichten, waren die meisten Konzertbesucher also zwischen 10 und 30 Jahre alt. Diese Platte markiert den Zenit der Band. Auch wenn es später noch zwei, drei Songs gab, die es in die oberen Lagen der Charts schafften, war der Kernbestand an Liedern, mit denen Supertramp auf bedingte Ewigkeit hin assoziiert wird, bereits geschrieben. Zuallermeist von Roger Hodgson, dem Herz und Hirn der Band, komponiert – auch wenn Rick Davies einige Songs und Richard Palmer die meisten Texte für sich reklamieren kann. Hodgsons Falsettstimme wurde mit den Jahren immer mehr zum Erkennungszeichen von Supertramp. 1984 begann er seine Solokarriere, während Supertramp nach einem Schwenk in Richtung Jazz, Rock und R&B ohne große neue Erfolge weiter tourte. Die schöpferische Phase war abgeschlossen. Hodgson und Supertramp gingen getrennte Wege, verwalteten parallel den kreativen Kernbestand ihrer früheren Jahre.

Immer mal wieder eine alte Platte aufzulegen, macht Spaß – egal ob Bach, Miles Davis oder eben Supertramp. Aber jemanden live zu betrachten, der nun seit gut 30 Jahren seine früheren Ideen vorführt? Weniger Vorfreude als Unwohlsein bestimmt meine Gefühlswelt beim Eintritt in den schüsselhaften Saal. Ein musikalischer Hamster im Rad? Ein Zombie, der die Schöpfungskraft seiner ersten 30 Jahre immer wieder neu gegen die Anfeindungen der Zeitläufte in Stellung bringt? Ein idealistischer Meister, der sich und sein Publikum mit musikalisch beliebig reproduzierbaren Jugendgefühlen die Tür in eine stets bessere Welt öffnet? Der Abend wird es erweisen. Vielleicht.

Ein übersichtliches, fast bescheidenes Bühnenarrangement: zwei bambusähnliche Hecken im Hintergrund von wechselnden Lutschbonbonfarben beleuchtet. So stellt man sich den Innenraum eines Thai-Massagesalons in Unna oder Bad Schandau vor. Hinten – schön symmetrisch – Keyborder und Drummer, zentral vor ihnen der E-Bass, vorne links an der Bühnenrampe der Holzbläser mit Saxophonen, Piccoloflöte und anderem. Vorne rechts ein kleines, mit weißem Hemd und Weste bekleidetes Männchen mit irisierenden Bewegungen am ebenfalls weißen Keybord: Roger Hodgson. Die blonde Struwelmähne, die dünnen Beinchen, ja die ganze zarte Gestalt und der jungenhafte Schwung seiner Bewegungen zeigen auch hier, wie alterslos die Bühne einen halten kann. Ich habe kein Opernglas zur Hand, aber wie 65 sieht er wirklich nicht aus. Es folgen warme, freundliche Worte über Frankfurt und das deutsche Publikum als solchem. Roger ruft Vornamen auf, die ihm im Vorfeld ihre Musikwünsche zugemailt haben. „Oh, you are so shy“, bedauert er, wenn sich keiner meldet. Liebenswert. Das Publikum dankt ihm jede Erläuterung, warum gerade jetzt einer der „Kernbestandsongs“ zu spielen sei. School. Viele stehen auf. In den ersten Reihen gehen die Arme nach oben. Vor mir wiegt sich eine weiße, kurzärmelige Bluse im Takt. Neben ihr schlägt sich – nach einer gewissen Anlauffrist – der zugehörige Partner ohne jedes Rhythmusgefühl die Hände gegen die bejeansten Oberschenkel. Aktivität scheint gefragt. Hat man ja früher doch auch so gemacht. Der Klang von der Bühne ist voll und angenehm laut. Nicht zu viel des Guten. Gleiches gilt für den Scheinwerfereinsatz. Kaum Stroboskop, keine Nebelmaschine. Kein Chichi. Dreamer. Die Smartphonebildschirme wiegen sich im Takt. Feuerzeuge braucht man ja nicht mehr dafür. Die weiße Bluse vor mir ist wieder aufgestanden. Der Partner bleibt sitzen. Man kann es ja auch übertreiben. Nach zwei Stunden Programm und 15 Minuten Zugaben ist der Traum vorbei. Die Stimmung steigt bis ins gediegen Frenetische. Beim abschließenden Ausatmen und Entleeren des Saals sieht man viele Pärchen noch eine Weile in inniger Umarmung verweilen. Die Musik hat sie glücklich gemacht oder sie mit Glücksmomenten in der Vergangenheit kurzgeschlossen. Beseelte Gesichter laufen auf den Stufen abwärts. Der Realität entgegen. Roger Hodgson hat erfolgreich den Peter Pan gegeben. Er, der nicht alternde Junge, hat den allermeisten Besuchern für gut 140 Minuten einen herrlichen Besuch in ihrem persönlichen Neverland ermöglicht. Dafür sollte man eigentlich dankbar sein. Der Gedanke an Kitsch scheint wohl nur bei jenen auf, für die Supertramp noch nie eine Tür ins Zauberland geöffnet hat.

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