Deutschlands ehemaliger Literaturpapst, Marcel Reich-Ranicki, gab unter vielen anderen auch zwei Sammlungen seiner eigenen Buchkritiken heraus. Die eine trägt den Titel Lauter Lobreden die andere Lauter Verrisse. Beide sind etwa gleich umfangreich und zum gleichen Preis auf dem Markt erschienen. Auch, um sich des Vorwurfs zu erwehren, er würde Literatur am liebsten verreißen, wies Reich-Ranicki später darauf hin, dass der zweite Band mehr als doppelt so oft verkauft wurde wie sein positives Pendant. Es gibt die Freude am Verriss. Auch das Negative hat – gerade in den Augen des Publikums – seine Legitimation.
Warum nun diese umständliche Einleitung? Die Bücher, die ich im Laufe der Jahre in diesem Blog besprochen haben, kamen alle mit der Schulnote drei oder besser davon. Das verdankt sich vor allem der Tatsache, dass ich ja Empfehlung geben möchte, was zu lesen sich tatsächlich lohnt. Anders als in der Literatur ist bei Fachbüchern leichter begründbar, warum sie ihr Ziel nicht erreicht haben. Nun flatterte mir etwas auf den Schreibtisch, was vom Eigenanspruch her unbedingt gelesen werden möchte, und dennoch bestenfalls sehr spezifisch weiterempfohlen werden kann. Im Interesse der subjektiven Wahrheitsfindung hat der Verriss auch hier mal seinen Platz. Die Rede ist von:
Im Vorwort heißt es: „Der Leser kann einzelne Kapitel im Sinne von Fachartikeln oder auch systematisch interessengelenkt lesen.“ Bei einem „Praxisleitfaden“ sollte von Beginn an glasklar sein, wer ihn denn für seine Praxis brauchen könnte. Der Musiktherapeut, der Seniorenheimbewohner? Dessen Angehörige? Die Heimleitung? Das Pflegepersonal? Na ja, im Prinzip wendet sich das Buch – ohne es zu sagen – je nach Kapitel an alle. Aber die professionelle Lesergruppe der Musiktherapeuten hat einen komplett anderen Wissenshintergrund als gutwillige Angehörige, die meinen, dass Muttern doch zuhause immer gerne Elvis aufgelegt habe. Das Buch versucht niemanden direkt anzusprechen und ist so auch für niemanden eine „praktische“ Hilfe. Die von unterschiedlichen Autoren (-paarungen) verfassten acht Kapitel differieren in Sprache und vorausgesetztem Wissen weit möglichst. Im Kapitel 4 (Wissenschaftliche Perspektiven zu Musiktherapie mit älteren Menschen) stolpert man alle paar Zeilen über in Klammern gesetzte Literaturhinweise. In Kapitel 5 (Der Musiktherapeut) werden psychologische Basics wie Gesprächstechniken angesprochen. Mit diesen aber hat sich jeder Musiktherapeut – um den es ja laut Kapitelüberschrift hier geht – bereits in seiner Ausbildung intensiv beschäftigt. In Kapitel 6 (Musiktherapeutischer Interventionskatalog) endet jedes Unterkapitel sinnig mit „weiterführender Literatur“ und einem Alltagsbeispiel. Das Lektoriat hat qua Arbeitsverzicht oder Überforderung nicht einmal eine formale Homogenisierung dieser Bausteine gewagt. Aber auch inhaltlich ist Kopfschüttteln angezeigt: In Kapitel 5 wird intensiv dazu geraten, die Patienten möglichst in ihrer je eigenen Musikwelt abzuholen. Sehr schön! Aber am Ende des Kapitels wird unter „Weiterführende Literatur“ auf eine Liedsammlung der Evangelischen Heimstiftung aus dem Jahr 2002 verwiesen. Mein Gott! Die Menschen, die heute in Seniorenheime einziehen, sind mit Bill Haley, den Beatles und den Stones groß geworden. Die mit dem Kufsteinlied und den Caprifischern: das waren ihre Eltern! In Kapitel 8 (Zusammenfassung und Ausblick) wird zwar darauf hingewiesen, dass mit dem Einrücken der 68-er Generation der Musikgeschmack wohl ändern könnte. Aber hallo! Rudi Dutschke, einer der Väter der 68-er Bewegung war Jahrgang 1940. Teile der 68er sind längst in den Heimen angekommen, aber keiner der Autoren dieses Buches scheint dies mitbekommen zu haben. Also ein Reader mit sehr heterogenen Beiträgen, die mühsam von Vorwort und Zusammenfassung gerahmt werden. Sicher, auf die eine oder andere Weise wird die Musiknutzung im alterstherapeutischen Umfeld positiv erläutert. Ob ihm dieser bescheidene Erkenntnisertrag nun 26,90 € wert ist, mag der geneigte Leser selbst entscheiden.