Warum wollen wir immer älter werden?

Warum wollen wir immer älter werden?

Büste einer nach

Die meisten Quellen, aus denen ich Anregungen für Artikel auf diesen Seiten finde, beschäftigen sich schon länger kaum noch mit dem „Warum“ oder „Wofür“ der längeren Lebenszeit. Es geht ums „Wie“ der Lebenszeitmaximierung und um die Frage, wo die absolute Altersobergrenze für uns Menschen liegt. Also um die Form, nicht um den Inhalt.

Das Potpurrie der Ideen für das längere Leben erstreckt sich über nachvollziehbare Handlungsfelder wie Sport, Ernährung und soziale Interaktion. Aber darüberhinaus gibt es ja Tips fürs Enfrieren des Körpers, für operative Eingriffe, um wenigstens den Schein ewiger Jugend aufrecht zu halten und um Pillencocktails, die die finale Lebensgrenze weiter nach oben verschieben sollen. Die einen sind noch irgendwie nachvollziehbar, die anderen wetteifern – in meinen Augen – um die Krone der Absurdität.

Denkende

Hier macht sich noch jemand Gedanken

Aber beiden Ideensträngen ist gemein, dass sie kein Wort dazu verlieren, warum man nun unbedingt den 90. oder 100. Geburtstag erleben muss oder will. Bemerkungen zu sozialem Engagement oder zu den großen Chancen für Engel- und Urenkelkinder sucht man weitgehend vergebens. Auch küstlerische Freiheit oder Tun-was-man-schon-immer-machen-wollte-Gedanken werden kaum geäussert.
Mehr Jahre scheinen auf alle Fälle gut zu sein, egal, was in ihnen passiert. Seltsam. Auf der anderen Seite haben wir eine alternde Gesellschaft, in der immer weniger junge Menschen die Rente und die diversen Zuzahlungen zu Pflegeeinrichtungen begleichen müssen. Auf Kosten ihrer eigenen Lebensplanung. Schon jetzt wird die Rentenkasse mit hunderten Milliarden aus dem Bundeshaushalt gesponsort. Tendenz steigend. Das sinnbefreite Immer-älter-werden-Wollen belastet die nachfolgenden Generationen. Da liegt es doch eigentlich nahe, darüber nachzudenken, wie man den Jüngeren etwas zurückgeben könnte. Zeit gibt es ja nun genug. Wo bleiben also die freiwilligen-Oma/Opa-Startups? Wo sind die mit Lebenserfahrung gesättigten Think-Tanks, die Unternehmen und (Kommunal-)Politik beraten?

Es kann doch nicht sein, dass die vielen verbleibenden Jahren in Fitnessbuden und Schönheitsfarmen verschwendet werden. Die Babyboomer haben summa summarum eine gute Performance, was ihre Arbeitsjahre angeht. Das gilt auch für das Innovationsaufkommen in ihrer Zeit. Wieviel besser wäre es (m.E. nach auch für die Betroffenen), wenn nun Zeit und Energie auf Erhalt und Verbesserung der Lebensqualität für nachfolgende Generationen verwendet würde! Mehr Gemeinsinn, weniger Selbstoptimierungsdrang!

Freude am Alter statt Flucht vor dem Alter

Freude am Alter statt Flucht vor dem Alter

Was Seneca uns zum Altern zu sagen hat.

Ein Großteil der aktuellen Diskussion um das Älterwerden beschäftigt sich mit dem Hinauszögern von Hinfälligkeit und Tod. Lebensverängerung ist gefragt. Lustigkeit wie in den frühen Jahren gilt als ein zentraler Beschäftigungswunsch für die späten Jahre. Da ja nun jeder (zumindest in einigen Gebieten) seines Alters Schmied ist, könnte Senecas gänzlich andere Auffassung über den letzten Lebensabschnitt für „Abweichler“ von der gängigen Wir-wollen-immer-hübsch-und-jung-bleiben-Haltung anregend sein.

 

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Seneca im Halbportrait (Antikensammlung Berlin)

So schreibt er in seinem 12. Brief an seinen jüngeren Freund Lucilius:

„Jedes Vergnügen hebt seine größten Freuden bis zum Schluss auf. Die Zeit des Lebens, die das größte Vergnügen bietet, ist das Alter, in dem die Abwärtsbewegung – nicht der steile Abstieg – bereits begonnen hat; und meiner Meinung nach hat auch das Alter, das an der Schwelle des Todes steht, seine eigenen Freuden – oder die Tatsache, sich nicht mehr nach irgendwelchen Vergnügungen zu sehnen, tritt an deren Stelle. Wie schön ist es, wenn man seine Begierden überwunden und hinter sich gelassen hat!“

Diese Zeilen finden sich auf S. 71 in in dem Buch Seneca – Briefe an Lucilius, erschienen im Finanzbuchverlag München 2023

Elke Heidenreich: Altern

Elke Heidenreich: Altern

…oder aus ihrem Zitatenschatz: „Die Kunst besteht darin, jung zu sterben, das aber so spät wie möglich.“ (Reinhard Wandtner).

Vielleicht ist auch dies Zitat, das in leicht verwandelter Form seit jeher das Leitmotiv dieses Blogs bildet, der Grund für die folgende, etwas überschwängliche Rezension…
Schon auf dem Titelbild zeigt sich: es geht hier um die Fülle des Lebens. Das Alter ist für die Autorin kein grauer Wartesaal, in dem man ergeben verweilt, bis Charon einen mit seinem Boot ins Reich der Toten übersetzt.

Titelbild mit Blumen

Zwischen Schlangen und Blumen: das Altern

Das Alter ist auch nicht nur eine Zeit der Erinnerungsübungen an das süße Früher. Nein, Elke Heidenreich schreibt eine Art Bilanz, ungeschönt, getrieben vom Drang, sich nochmal darüber klar zu werden, was es war, das eigene Leben. Und was es für die nächste Zeit sein könnte. Klar, dass Sie als erfolgreiche Autorin und Kritikerin ihr Leben nicht ohne Unterstützung der Literatur befragt.

Hilfe, starke Hilfe findet sie bei den Autoren/innen, die sich heutzutage, in zurückliegenden Jahrzehnten oder vor 2000 Jahren mit Altern und Tod beschäftigt haben. Natalia Ginzburg, Truman Capote, Marguerite Duras, Cicero, Goethe usw. So kommen wir in den Genuss, quasi nebenbei zu erfahren, was große Denker und Schreiberinnen über Alter und Tod dachten (Die Reihe der Zitierten ist erheblich länger als oben angedeutet). Neben Heidenreichs eigenen Gedanken lesen wir auch Dialoge zwischen ihr und den vielen klugen Bewohnern ihrer Bücherwände. Mal mit Zustimmung, mal mit Widerrede, mal mit „kann man so sehen.“

Schon nach wenigen Seiten kann man festhalten:

  1. Sie betrachtet das Alter nicht als zu versteckende Lebensetappe, sondern als einen Abschnitt mit Vor- und Nachteilen unter den anderen, die unser Leben zu einem Ganzen fügen. Allerdings überwiegen für sie im Alter die Vorteile.
  2. Sie hält vom momentanen Selbstoptimierungswahn genauso wenig wie von den Ich-kann-mit-meinem-Alter-nicht-umgehen-Leuten. Diese sind hier ihr Lieblingsfeindbild.

Ob Botox-Adepten oder Ernährungsasketen: alle bekommen in diesem Buch auf höchst amüsante Weise den Marsch geblasen. Das geht dann bei ihr so: „Ich finde die alten, ja: die vom Leben verwüsteten Gesichter von Jeanne Moreau oder Louise Bourgeois wunderschön, sie erzählen von prall gefülltem Leben sehr viel mehr als die Gesichter von Frauen mit prall gefüllten Botoxwangen.“

So wunderbar treffende (auch bösartige) Formulierungen finden sich alle paar Seiten, so über den gealterten Popstar Madonna Louise Ciccone: „Madonna zum Beispiel sieht jetzt aus wie irgendwas an Halloween!“ Auch Kim Kardashian und die Geissens, aus dem Privat-TV, bekommen ihr Fett weg.

Natürlich gibt es dann auch Belege gegen den herrschenden Selbstoptimierungswahn. So zitiert die Autorin Keith Richards (Rolling Stones) mit den Worten: „Ein Mittag- oder Abendessen ohne ein Glas Wein ist lächerlich.“ Und nickt zufrieden dazu: „Sag ich doch.“

Ihre Dynamik ist wohl dafür verantwortlich, dass das Leben ihr jüngere Partner und jüngere Freundinnen an die Seite stellt. 80 Jahre ist sie laut Pass. Aber wie HIER beschrieben, kann das subjektive Alter abweichen. Elke Heidenreich erscheint entschieden jünger. Ihrer eigenen Wahrnehmung nach sogar glatte 20 Jahre. Als Zuschauer ihrer SPIEGEL-Buchrezensionen oder als Leser hat man den Eindruck: sie hat vielleicht recht.

Vorteile hin, Vorteile her, Heidenreich betreibt keine Heroisierung des Alters. Sie verhandelt Liebeskummer, Altersdiskriminierung und teilweise Verzweiflung an der Digitalisierung von fast allem; hier der Unmöglichkeit eine Museumskarte ohne Handy zu ergattern. Womit sie jedoch gar nichts anzufangen weiß, ist den letzte Lebensabschnitt auf der Parkbank oder dem Ruhekissen zu verbringen. Jenen, die nach Einstieg in Rente und Pension vom Nichtstun träumen, hält sie entgegen: „Nichtstun macht nur Sinn als Gegensatz von Tun. Wenn ich nichts mehr tue, wozu bin ich dann noch da?“ Hier kann man einwerfen, dass nicht alle mit einem so befriedigenden Job wie den einer erfolgreichen Schriftstellerin gesegnet sind. Aber man könnte sich ja auch jetzt – nach dem Ende der Lohnarbeitszeit – einer neuen, einen mehr begeisternden Aufgabe widmen. Ich glaube, zu diesem Gedanken würde die Autorin durchaus gnädig nicken.

In Summe zeigt sich Elke Heidenreich in diesem Buch als großartige Mutmacherin. Sie ist 80 Jahre. Sie weiß, wovon sie spricht, aber sie schreibt im Geiste Martin Luthers (den sie nicht zitiert), der gesagt haben soll: „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen“.

Gerade in unserer nölig-miesepetrigen Zeit kann man ihre folgenden Zeilen als Aufruf lesen, sich mal ein bisschen zusammenzureißen: „In einem Land zu leben, das fast während meines gesamten Lebens vom Krieg verschont war, auch das ist Glück. Ein großes, das größte Glück.“

Sollte Elke Heidenreich an den Punkt gelangen, über ihre eigene Grabsteinaufschrift nachzudenken, könnte sie sich bei Henry Beyle, alias Stendhal, bedienen: visse, scrisse, amasse; also: ich lebte, ich liebte, ich schrieb. Es würde zu ihr passen.

Ich verspreche Ihnen: die Lektüre dieses Buches wird Sie bereichern. Sie werden sich weitere Werke leihen oder kaufen, die sich auf den Bücherregalen von Elke Heidenreich finden. Ich bin mir dessen sicher!

Elke Heidenreich: Altern
Hanser Berlin, 2024
20,00 €

Nachdem das Buch ein großer Erfolg beschieden ist, äussert sie sich auch in einem Interview zum Thema:

 

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