Pflege, quo vadis?

Pflege, quo vadis?

Dass die Situation der Pflegeeinrichtungen in Deutschland zwischen problematisch und dramatisch zu verorten ist, ist nichts Neues. Anfang 2020 musste ein Pflegebedürftiger für einen Platz im Heim im Schnitt (nach Angaben des Verbandes der Ersatzkassen) pro Monat 1.940 Euro aus eigener Tasche bezahlen. Die Zahlen schwanken je nach Bundesland stark. Gefallen sind die Sätze seitdem mit Sicherheit nicht. Dass Covid19 für eine Übersterblichkeit – gerade in der Seniorengeneration – gesorgt hat, ist ebenso bekannt. Und wir wissen auch, dass praktisch jedes Seniorenheim dringend nach neuen Pflegekräften fahndet.
Dies abstrakte Wissen wird dann relevant, wenn wir selbst oder ein Angehöriger Pflege benötigt.Das Statistische Bundesamt meldet: Ende 2021 stehen 5 Millionen Pflegebedürftige im Wettbewerb um 15.400 ambulante Pflegedienste und 16.100 Pflegeheime. 2005 waren es erst gut 2 Millionen.
Um das Durchschnittsalter in Deutschland auf dem heutigen Stand stabil zu halten, bräuchten wir eine Zuwanderung von gut 800.000 Menschen. Jedes Jahr. Dies dürfte organisatorisch fast unmöglich sein. Und die gesellschaftliche Akzeptanz für eine solche Masseneinwanderung ist wohl auch bei Menschen, die gemeinhin nichts mit der AfD zu tun haben, kaum gegeben. Hinzu kommt, dass wir immer länger leben.
In Summe bedeutet das: die Zahl der Pflegebedürftigen in unserem Land geht weiter steil nach oben. Die Pflegequalität ist aber – vor allem wegen Personalmangels – schon jetzt an vielen Stellen kaum mehr vertretbar. Der Staat hat nicht das Geld, um im notwendigen Maße Heime zu errichten. Internationale Investoren, die schon jetzt den deutschen Krankenhausmarkt für sich entdeckt haben, werden „menschenwürdige Pflege“ nicht so weit oben in ihrer Zielkaskade haben wie return of investment. Das liegt in der Logik des Systems.

Und nun? Was kann man tun? Der Zyniker würde sagen: „Rechtzeitig zum selbst gewollten Lebensabschied in die Schweiz reisen“.

älterer mensch, unschlüssig

                   Was ist  die richtige Entscheidung?                                                  Bild von Alexa auf Pixabay

Nein, so schnell sollte man nicht aufgeben. Vielleicht werden wir uns doch in absehbarer Zeit mit den japanischen Pflegerobotern anfreunden? Oder wir hoffen auf innovative Ideen hierzulande. Fest steht: Volkswirtschaftlich betrachtet ist die Pflege im eigenen Zuhause günstiger als die in einem Heim. Auch ist es der Wunsch der allermeisten Senioren, die letzte Lebensphase in den eigenen vier Wänden zu verbringen.
Das heißt, dass die schon fast sprichwörtliche „Polin“ oder „Slowenin“ etc. die am wenigsten problematische Lösung sein könnte. Könnte, wenn der Markt der Vermittler nicht so intransparent wäre und man nicht oft das Gefühl hätte, an Abzocker zu geraten, denen die Vermittlungsgebühr weit wichtiger ist als Wohl und Wehe der Pflegebedürftigen und der Pflegekräfte. Das ist natürlich sehr pauschal. Aber man sollte sich wirklich so früh wie möglich schlau machen, mit welcher Organisation man zusammenarbeiten möchte und welche ethischen Gesichtspunkte dort wie glaubhaft vertreten werden.

Auch bei Seniorenheimen kann man natürlich Glück haben und einen freien Platz ergattern. Aber auch hier gilt – wie bei der Anmeldung für Kita-Plätze: Je früher, desto höher die Chance auf einen Platz in einer „guten“ (und bezahlbaren) Einrichtung. Was „gut“ bedeutet, sollte man sich im Vorfeld selbst bewusst machen. Zumindest als Handreichung kann eine in der FAZ veröffentlichte Qualitätsliste von Seniorenheimen hilfreich sein.

 

Gespräch mit einer Trauerrednerin, Teil 2

Gespräch mit einer Trauerrednerin, Teil 2

DG: Das ist schön, liebe Frau Arndt, dass Sie sich nochmals die Zeit nehmen konnten, mir ein paar weitergehende, eher pragmatische Fragen zu Ihrer Berufsausübung zu beantworten. Machen wir also gleich weiter:

Etwas hat das Zimmer nach draussen verlassen

Symbol für das Entschwinden eines geliebten Menschen

DG: Den zuständigen örtlichen Pastor kann ich ja schnell ermitteln. Wie aber kann ich mit Ihnen Kontakt aufnehmen?

UA: Die meisten Trauerredner/innen arbeiten selbstständig und sind mit ihren Websites im Internet leicht zu finden. Viele von uns kooperieren eng mit einigen Bestattern und werden über diese den Angehörigen empfohlen. Wer sich also noch nicht an ein Beerdigungsunternehmen gewandt hat, kann jederzeit eines anrufen, das ihm/ihr zusagt und vertrauenswürdig erscheint, und dieses um eine Empfehlung bitten. Wichtig ist das Gefühl, dass die Chemie stimmt. Wenn das nicht der Fall ist, unbedingt die Dienstleisterin, also mich oder das Institut, wechseln, auch wenn der Kontakt schon fortgeschritten sein sollte. Niemandem ist geholfen, in dieser sehr wichtigen Lebens- und Übergangssituation nur etwas aushalten zu müssen und sich nicht gut versorgt zu fühlen.

DG: Mit welchem Hauptanliegen wenden sich die Angehörigen an Sie?

UA: Sie möchten, dass die Individualität der/des Verstorbenen aufleuchtet und die Erinnerungen an gemeinsame Zeiten geweckt werden und diese sie im Moment des Zuhörens trösten. Sie fühlen, dass sie sich weiterhin verbunden fühlen und dies ein natürliches Bedürfnis ist, das sie sich nicht abschneiden müssen. Sie möchten lachen, traurig sein, den Abschiedsschmerz fühlen und sich in Gemeinschaft wissen. All diese Momente spreche ich in meiner Rede an, all diese Bedürfnisse haben Platz. Sie möchten nicht – wie bei vielen konservativen und konfessionellen Bestattungen – mit der Enttäuschung nach Hause gehen, dass von der einzigartigen, geliebten Person gar nicht die Rede war, und sie stattdessen nur mit Bibelpassagen oder nichtssagenden Biografieabrissen bedacht wurden. Unsere Elterngeneration noch fühlte sich zwar nicht gesehen und ernst genommen, traute sich aber nicht, dies zu kritisieren. Das ist heute anders.

DG: Was muss ich als Kunde tun, wenn ich Sie engagiere? Worauf muss ich gefasst sein?

UA: Meine Praxis ist genau anders herum als im kirchlichen Kontext. Ich mache keinerlei Vorgaben, sondern biete Ihnen Zeit und Raum, mir all Ihre Wünsche, Ängste und Vorstellungen, auch ganz neue Ideen, mitzuteilen. In unserem Gespräch können Sie sich einfach nur erinnern, und wer in der Lage ist, sammelt zuvor ein bisschen Material, das beim Schreiben hilfreich sein könnte. Aber das pure Erzählen reicht völlig. Die französische Rabbinerin Delphine Horvilleur hat das Treffen mit den Angehörigen und die gemeinsame Vorbereitung der Trauerfeier als „heilige Augenblicke“ beschrieben – und genauso empfinde ich es auch.

DG: Wie sehen Sie sich selbst im Gespräch mit Ihren Kunden um Trauer und Abschied?

UA: Ich verstehe mich als eine Membran für die Trauernden, die von all ihren Erinnerungen, ihrem Abschiedsschmerz und ihren Hoffnungen bewegt wird und diese anschließend der gesamten Gemeinde in der Trauerfeier selbst zurückgeben darf. Ich erfinde ja nichts, um den Trauernden Neues zu erzählen. Es ist eher ein Übersetzen dessen, was sie gesagt haben, sodass sie es anders hören können. Den Angehörigen kommt der eigene Bericht zu Ohren, aber über eine andere Stimme, meine Stimme. Manchmal lassen sich danach die Leben der Verstorbenen in einem ganz anderen Licht betrachten, werden plötzlich verständlicher.

DG: Für die Begleitung durch einen Pastor bezahlte die Verstorbene ihre Kirchensteuer. Wie viel muss ich für eine Trauerrednerin einkalkulieren?

UA: Von Kolleginnen und aus dem Internet weiß ich, dass die Trauerrede zwischen 190 und 650 Euro netto betragen kann. Die Unterschiede ergeben sich durch die Region, in der Sie tätig sind, durch die Zusammenarbeit mit den Bestattungsinstituten und durch die Qualität beziehungsweise das jeweilige Alleinstellungsmerkmal der Rednerin.Meine Arbeitsweise und meine Ansprüche an die Textqualität sowie meine Aufgabe als Trauerbegleiterin (der ersten Schritte auf dem Trauerweg der Angehörigen) unterscheiden sich von denen der Kolleginnen. So ergibt sich ein anderer Zeitaufwand als der dort publizierte von einer Handvoll Stunden pro Auftrag. Was bedeutet, dass ich im Durchschnitt eher drei bis vier Handvoll Stunden für die Angehörigen und die Rede aufbringe.

DG: Wann sind Sie erreichbar, und wie viel Vorlauf brauchen Sie für Ihre Reden?

UA: Wie wir leider wissen: Der Tod hält sich nicht an Pläne und kennt keine Sonntage. Also sind wir fast durchgehend erreichbar, besonders wenn sich Menschen in Not und hilflos fühlen. Erste Informationen und Beruhigen stehen dann an erster Stelle. Ich möchte das Gefühl vermitteln: Von nun an ist da jemand, der mich zuversichtlich und vertrauenswürdig auf diesem neuen Weg begleitet und beschützt. Jemand, dem ich meine Familiengeschichte für diesen Moment in die Hände legen darf.

DG: Herzlichen Dank für das Gespräch!

Ute Arndt I Trauerreden und Trauerbegleitung I www.ute-arndt.de

Im Gespräch mit einer Trauerrednerin – Der Blick auf die letzte Zeremonie

Im Gespräch mit einer Trauerrednerin – Der Blick auf die letzte Zeremonie

Mit zunehmendem Alter ergibt sich bei den meisten Menschen auch eine mentale Einstellungsänderung bezüglich des eigenen Endes: das abstrakte Wissen, dass jede/r irgendwann stirbt, wird zur sicheren Erkenntnis, dass die verbleibenden Jahre immer weniger werden. Dies manchmal aufkommende Gefühl wird jedoch zumeist mit erhöhter Verdrängungsenergie zum Schweigen gebracht. Die bewußte Beschäftigung mit dem eigenen Tod findet in unserem Kulturkreis nur selten einen wirklichen Platz. Das Testament und dergleichen bilden einen Teil der möglichen Vorbereitung auf das eigenen Ende. Die Frage, wie mein letzter Weg gestaltet werden sollte, den anderen, meist noch mehr vernachlässigten Teil. Die Pfarrer/innen der christlichen Gemeinschaften übernahmen seit Jahrhunderten zuallermeist den Part der letzten Worte zu den Verstorbenen. Aber nicht erst seit den Massenaustritten aus den Kirchen treten vermehrt nicht konfessionsgebundene Trauerredner/innen an ihre Stelle. Um einmal zu klären, was in ihrer Arbeit den Unterschied zu den Beerdigungen im kirchlichen Kontext ausmacht, habe ich ein Gespräch mit der Trauerrednerin Ute Arndt geführt.

Portrait Ute Arndt

Trauerrednerin Ute Arndt

DG.: Liebe Frau Arndt, warum entscheiden sich Menschen, Sie als weltliche Trauerrednerin zu engagieren – und nicht wie gewohnt eine Pastorin/einen Pastor?
UA: Auch die Angehörigen, die keiner (christlichen) Glaubensgemeinschaft angehören, möchten ihre Verstorbenen mit einer Trauerfeier verabschieden, in der sie mit Reden, Musik und Ritualen in einem würdigen Rahmen Abschied nehmen können. Ich als Rednerin darf aus dem Leben ihrer Lieben erzählen, mit Geschichten und Anekdoten die Lebensmelodie des/der Toten noch einmal erklingen lassen, eingebettet in Musik, Lyrik und weitere Beiträge der Angehörigen selbst.
Als Trauerrednerin moderiere ich die Feier und gestalte die gewünschten Rituale, die Momente der Trauer und der Erinnerung, die Beisetzung in der Erde, aber ebenso den Ausblick auf das Leben, das weitergeht. Auch die Aussegnung gehört zu meinen Aufgaben, wenn gewünscht. Sie kommt im Prinzip in all meinen Reden vor, denn wir alle haben das Bedürfnis, den Toten unseren Segen für ihre Reise ins Jenseits mitzugeben.

DG: Aber wer sich christliche Abschiede wünscht, ist doch von dem entsprechenden Pastor abhängig und muss sich den gegebenen Bräuchen anpassen, oder nicht?
UA: Auch die Pastorin/der Pastor führt vor der Feier ein Gespräch mit den Angehörigen, um etwas aus dem Leben der Verstorbenen zu erfahren. Ihre Gespräche dauern aber nicht so lange und sind weniger intensiv als meine Besuche bei den Angehörigen, was verständlich ist, denn deren Aufgaben sind vielfältig und deren Arbeitszeit ist nicht unendlich.
Meine Empfehlung: Engagieren Sie beide. Die Pastorinnen für die christlichen zeremoniellen Passagen, für die spirituelle Begleitung und das Aufgehobensein im Glauben, und mich als Trauerrednerin, die aus dem Leben der Toten, aber auch von der Liebe und den Beziehungen zu ihnen erzählt. So bereite ich Ihnen ein sozusagen zweites Aufgehobensein in der gemeinsamen Erinnerung und dem nun stattfindenden Abschied. Trauerfeiern „im Duo“ bleiben unvergessen und in sehr guter Erinnerung, so meine Erfahrung.

DG: Kommen zu Ihnen nur Jüngere, die schon konfessionslos aufgewachsen sind?
UA: Nein, eher das Gegenteil. Zu meinen Kolleginnen, den sogenannten modernen oder alternativen Bestattungsinstituten, und uns Trauerrednerinnen kommen Menschen mit Lebenserfahrung – also in einem gewissen Alter –, die sehr bewusst ihre Trauer und ihre Beziehungen zu den Toten reflektieren. Menschen, die selbstfürsorglich handeln und wissen, dass das Zelebrieren von Lebensübergängen wichtig ist.
Es können aber auch junge Familien sein, die viel seelischen Beistand brauchen, wenn zum Beispiel der Ehemann oder eines der Kinder gestorben ist. Insofern stehe ich als Rednerin den Angehörigen auch auf ihren ersten Schritten des Trauerwegs zur Seite.
Alle Familien möchten einen würde- und liebevollen Abschied für ihre Toten und für die Lebenden, die Trauergemeinschaft. Sie wünschen sich, dass sie diesen Abschied als „schöne Trauerfeier“ erinnern werden, solange sie auf der Welt sind. Ein erster klitzekleiner Trost. Und sehr oft fällt genau dieser Begriff, wenn sie am Grab stehen, die Feier zu Ende ist und sie sich nicht trennen können.

DG: Frau Arndt, wie schaffen Sie es als Außenstehende über eine unbekannte Person so zu schreiben, dass die Zuhörer zufrieden sind?
UA: In dem Gespräch mit den Angehörigen, das mindestens drei Stunden (oder länger) dauert, sammele ich viele Geschichten aus dem Leben der Verstorbenen, und zwar so lange, bis ich eine innere Verbindung spüre. Nicht nur die Glücks- und Erfolgsstorys, auch Schwieriges, Konflikte und wackelige Beziehungen werden thematisiert – zum Glück, denn Menschen sind keine Heilige. Die Geschichten, die ich in der Rede wiedergebe, vereinen das Gewesene, holen es in die Gegenwart und bauen eine Brücke in die Zukunft. Sie stärken das Band zwischen den Toten und den Lebenden. Sie beherbergen viele konkrete, sinnliche, emotionale Momente – und wecken oft die Sehnsucht nach: Erzähl mir mehr … Im besten Fall gehen die Trauernden mit dem Gefühl nach Hause, es hat dort vorn eine enge Freundin mitgelitten, mitgeweint und mitgelacht – eine Person, die den verlorenen Menschen verstanden hat.

DG: Wenn ich eine Traueranzeige aufgeben, bekomme ich vor Veröffentlichung noch einen letzten Entwurf zur Freigabe. Wann geben Sie Ihre Trauerrede zur Freigabe an die Angehörigen?
UA: Gar nicht. 95 Prozent der Angehörigen schenken mir ihr Vertrauen und erleben die Rede auf der Feier, vorher nehmen sie sie nicht zur Kenntnis. Manchmal aber telefoniere ich mehrmals während des Schreibens und verifiziere Daten, Bezeichnungen, Namen und Abläufe von Ereignissen, wenn ich sie in der Rede aufgreife und Irritationen vermeiden möchte. Auf Wunsch bekommt aber jeder die Rede vorab zu lesen – und alle Veränderungswünsche werden erfüllt. Erinnerungen sind unser Besitz, und so gehört die Rede in meinem Selbstverständnis den Angehörigen.

DG: Sieht jetzt eine Trauerfeier mit Ihnen anders aus als eine konventionelle, von den Kirchen organisierte Beerdigung?
UA: Als soziale Wesen brauchen wir gerade in Übergangszeiten Rituale, mit denen die Seele einen Moment innehalten kann, das Vertrauen in das Leben nicht verliert; in denen all das nicht zu Sagende sich in einer symbolischen Handlung materialisiert. In wirklich gelebten Ritualen fühle ich mich mit dem Leben und der Gemeinschaft verbunden. In konfessionellen Trauerfeiern empfinden die Trauernden manches Mal die überlieferten Rituale als entleert, sie nicht repräsentierend. Wenn sie aber eingebettet sind in das persönliche Erleben aller Beteiligten, der Toten und der Trauernden, dann ermöglichen sie Transformation, das Integrieren der Verlusterfahrung und das kollektive Erleben. So sind auch die „neuen“ Trauerfeiern ein Ort, an dem ich gern Rituale einbinde wie das Kerzenritual, Beten, Mantrensingen, wie die Aussegnung, den Erdwurf, den Reisesegen – und alles andere, was gewünscht wird.

DG: Schönen Dank, liebe Frau Arndt, für Ihre Zeit. Wir werden das Gespräch gelegentlich weiterführen.
UA: Gerne.

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Wenn Sie selbst das Gespräch für sich weiterführen möchten:
Ute Arndt – Trauerreden und Trauerbegleitung
www.ute-arndt.de
mail@ute-arndt.de
Tel. 0173 255 355 1

Ute Arndt engagiert sich zusammen mit der Urnen-Künstlerin Ina Hattebier (www.andere-urnen.de) im Netzwerk Trauerkultur. Mit Workshops, Diskussionen und Death Cafés möchte es Mut machen, sich mit den Themen Sterben, Tod und Trauer zu beschäftigen und mit anderen darüber auszutauschen.
www.netzwerk-trauerkultur.de

Von Nürnberg nach Den Haag und weiter

Von Nürnberg nach Den Haag und weiter

Die Isolation, die das Corona-Virus von uns verlangt, gibt uns auf der anderen Seite mehr Zeit zum Lesen. Denn viel anderes ist ja leider nicht möglich. Die im Interview mit Nadia Khomami entstandene Autobiographie des nun 100jährigen Benjamin Ferencz ist an einem langen Abend durchgelesen – und bleibt doch viel länger in Kopf und Seele. Ein kleingewachsener Junge, den seine Eltern aus Transsylvanien (damals in Ungarn, gibt es heute nur noch als Landschaft) in die New Yorker Bronx brachten, ist ihr Held. In der von Millionen geteilten Hoffnung, dort in den USA ein besseres Leben begründen zu können,schiffte sich die Familie mit quasi nichts gen Westen ein. So beginnt dies spektakuläre Leben. Mit Glück und Fleiß schafft es der kleine Bejamin, sich die neue Sprache zügig anzueigenen, auf eine gute Schule zu kommen und mit Hilfe von Emphehlungen schliesslich in Harvard Jura zu studieren. Im zweiten Weltkrieg sichert er als Soldat der US Army Beweise, um die Untaten von SS und Wehrmacht später gerichtlich aufarbeiten zu können. Als Staatsanwalt prägt er die Nürnberger Prozesse in ganz entscheidendem Maße mit.

Sag immer Deine Wahrheit

Was mich 100 Jahre Leben gelehrt haben

Dem Recht verpflichtet, stellt er seine Energie und sein Ansehen später in den Dienst der Idee eines transnationalen Gerichtshofs. Dieser soll auf der Erfahrungsbasis der Nürnberger Prozesse allen Diktatoren, Menschenverächtern und Tyrannen ein billiges Davonkommen verunmöglichen. Der internationale Gerichtshof in Den Haag wurde zwar bereits 1945 gegründet, war aber bis in die 90er Jahre hinein ein zahnloser Tiger, dessen Arbeit rein moralischer Natur blieb. Bis Benjamin Ferencz sich auch hier mit seiner eisernen Disziplin und seinem Willen durchsetzte. Dazwischen liegt ein unglaubliches Leben. Mehr verrate ich nicht. Oder doch: den Sportadepten sei gesagt, dass Ferencz seit einigen Jahren jeden Morgen nur noch 75 Liegestütze macht und nicht mehr die 100, die er über Jahrzehnte zuvor ableistete. Aber das ist wirklich nur eine Randnotiz, denn es handelt sich wahrlich nicht um einen konventionellen „Altersratgeber“. ich wünsche tiefe Einsichten bei der Lektüre!

Bilanz 200

Zum Jahresende neigt man – genau wie gen Lebensende – zum Bilanzziehen. Meist ohne wirklich zukunftsstiftenden Ertrag. Dennoch: den 31. Dezember als Jahresbilanztag will ich nutzen, um einen großen Jubilar, Theodor Fontane, ein wenig zu befragen. Nein, so richtig altersrelevant ist dieser Beitrag nicht, aber für den einen oder die andere literaturinteressierte/n Leser/in vielleicht doch zumindest unterhaltsam…

Wie Theodor Fontane die Hamburger sah

2019 ist ein Fontane-Jahr! 200 wäre der dichtende Apotheker in diesem Dezember geworden. Fontane? Das ist doch der mit den Birnen von Ribbeck? Und Balladen hat er auch geschrieben. Ja, mancher stellt seine Effi Briest neben Flauberts Emma Bovary als Ikone der um Selbstbestimmung ringenden Frauen des 19. Jahrhunderts. Aber sonst? Die Breite und Tiefe seines Werkes ist der kollektiven Erinnerung verloren gegangen.

Vielleicht hilft der runde Geburtstag, diesen freundlichen Menschenbeobachter, diesen Kritiker rückwärtsgewandten Ständedenkens mit seiner ironisch fein geführter Feder, diesen Verfechter demokratischer Menschenrechte und Spötter des billigen Pompkapitalismus der Gründerjahre neu zu entdecken. Zwar liegt Theodor Fontanes Geburtsort näher an Berlin als an Hamburg. Aber dennoch kann man sich fragen, was der weltläufige Fontane von Hamburg und den Hanseaten gehalten haben mag?

Nach seinem Abschied von der Apothekerlaufbahn wendete Fontane sich dem Journalismus zu. So arbeitete er unter anderem jahrelang in England, wo er für mehrere Blätter sowohl Politisches als auch Kulturelles aus London und anderen Teilen der Insel berichtete. Wenigstens zwei seiner Reisen zur Themsestadt führten ihn über Hamburg. Mehr als eine kurze Angabe zur Reiseroute und ein paar Eindrücke einer maritimen Abschiedsszene ist ihm das Ganze aber nicht wert. Allerdings lässt er sich auch über die anderen deutschen Städte und Landschaften nur selten aus. Fontane interessierte sich vor allem für seine nähere und nächste Umgebung, also Brandenburg und Berlin, und für das damals noch fast exotisch Ferne. Seinen Ruf als Reiseschriftsteller verdankt er seinen Betrachtungen in England und Schottland („Jenseits des Tweed“) sowie dem Bericht über seine irrtümliche Festnahme als vermeintlich preußischer Spion. Mehrere Monate saß er auf der Insel Oléron nahe La Rochelle in Südwestfrankreich in Haft.

Nur beiläufig findet Hamburg in seinem heute wohl bekanntesten Roman „Effi Briest“ Erwähnung: Das Paar kehrte aus Dänemark über „Flensburg, Kiel über Hamburg (das ihnen ungemein gefiel) in die Heimat zurück“. Nur eine Landmarke mit einer kurzen Bemerkung. In seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ stolperte er einmal –  und wirklich nur einmal – über eine Hamburgensie,  ein Erzeugnis der alten Hamburger Glockengießerkunst: „Das bemerkenswerteste, was der Garziner Kirche geblieben, ist seine 1654 in Hamburg gegossene Glocke. Dieselbe ist einerseits durch ein tellergroßes, in die Glockenwandung eingeschmolzenes Medaillon, das »Urteil des Paris« darstellend, andererseits durch ihre plattdeutschen Inschriften interessant. Diese sind freilich nur zum Teil verständlich. Die untere, einreihige Inschrift lautet: »Gegaten tho Hamborch Anno Domini 1654 Junius.«“ Also ein dokumentarisches Detail, weiter nichts.  Bleibt nachzutragen, dass Garzin inmitten der Märkischen Schweiz östlich von Berlin gelegen ist.

Jahrzehnte nach seinen Englandreisen notiert er in einem Brief an seinen langjährigen Freund Georg Friedländer: „Hamburg, in seiner das aesthetische Gefühl befriedigenden  Erscheinung, ist vielleicht allen anderen modernen Handelsstätten überlegen, selbst London nicht ausgenommen.“ Auch hier  der nüchterne Tonfall distanzierter Dokumentation. Emotionaler gibt er sich in einem Schreiben an seine Frau Emilie: „Hamburg ist uns an Gewaschenheit und Sauberkeit immer noch voraus, aber dafür fehlt jedoch vieles, vieles andere.

Frau Jenny Treibel

Dieses offensichtlich fehlende Andere lässt er in einem seiner sogenannten „Berliner“ oder auch „Gesellschaftsroman“ genannten Werke eine bedeutende Rolle spielen. Allerdings ohne auszuformulieren, was denn nun Hamburg oder den Hamburgern fehlt.  Die Rede ist von „Frau Jenny Treibel oder wo sich Herz zum Herzen find´t“. Der Zweit- oder Untertitel macht schon deutlich, dass Fontane bewusst mit zumindest zwei Lesarten spielte: zunächst drängt sich eine Liebesschmonzette auf, die man in der Gartenlaube hätte lesen können. Einer Heftchenrevue des 19. Jahrhunderts, die heute im Kiosk zwischen Goldenem Blatt und Der Bergdoktor einsortiert wäre. Unter dieser geradezu billig-bieder wirkenden Oberfläche skizziert Fontane mit Ironie und lakonischer Menschenliebe das Gesellschaftspersonal der Berliner Gründerjahre: Kommerzienrat und Fabrikant Treibel ist ein honoriger Erfolgsmensch aus der Oberklasse. Er lässt die Schornsteine seiner Fabrik einfach immer weiter hochmauern, wenn deren Qualm in den Garten seiner nahgelegenen Villa pustet. Jenny Treibel, seine Gattin, stammt aus einfachen Verhältnissen. Sie hat aufwärts geheiratet. Fontane schenkt ihr den Mädchennamen „Bürstenbinder“ und bewegt sich mit dieser sprechenden Namensgebung auf Thomas-Mannschen Höhen. Majorin von Ziegenhals und Edwine von Bomst bleiben nicht hinter ihren Namen zurück. Treibels stehen – in unterschiedlicher Ausprägung – für die von Fontane belächelte Berliner Bourgeoisie. Dünkel ohne Herzensbildung; vorgebliche Jovialität bei knallharte Heiratspolitik; schönrednerisch verbrämter Klassenegoismus. Durch Jenny Treibels kommerzienrätliches Gehabe scheint hin und wieder blanke Dreistigkeit hindurch. Ihre Antagonisten sind Professor Willibald Schmidt (ein Freund Jenny Treibels aus Kindertagen) und seine selbstbewusste, modern erzogene Tochter Corinna. Beide gebildet, aufgeschlossen, dem Neuen zugewandt, aber finanziell nicht auf Treibelschem Niveau. Um diese Kerngruppe arrangieren sich nähere und entferntere Familienangehörige und Freunde, die durch ihre Auftritte in banalen Alltagssituationen den Lesern multiple Perspektiven auf das charakterliche Inventar der Hauptfiguren erlauben. Die Charakterkomödie ist komplett. Und die Hamburger? Sie entpuppen sich als Jennys Geheimwaffe. Die Professorentochter Corinna hat Aufstiegsambitionen in die gesellschaftliche Belle Etage. Eine Ehe mit Jennys etwas zurückgebliebenem Sohn Leopold wäre für sie die Überholspur nach Oben. Corinna angelt erfolgreich, und als die beiden gegen allen Anstand ihre Verlobung bekannt geben, ist Gefahr in Verzug. Jennys älterer Sohn Otto ist mit Helene Mundt aus Hamburg verheiratet. Diese Schwiegertochter Helene hat eine noch nicht verheiratete Schwester Hildegard. Jenny erläutert ihrem Gatten ihre Ränkestrategie:

Otto lebt seit acht Jahren in einer glücklichen Ehe mit Helenen, was auch nur natürlich ist; ich kann mich nicht entsinnen, daß irgendwer aus meiner Bekanntschaft mit einer Hamburgerin in einer unglücklichen Ehe gelebt hätte. Sie sind alle so zweifelsohne, haben innerlich und äußerlich so was ungewöhnlich Gewaschenes (…). Man hat sich ihrer nie zu schämen, und ihrem zwar bestrittenen, aber im stillen immer gehegten Herzenswunsche, ›für eine Engländerin gehalten zu werden‹, diesem Ideale kommen sie meistens sehr nah.“

Dass dies kein Zufall ist, sondern Methode hat, erkennt Jenny an ihrer Hamburger Enkelin:

Lizzi galt im ganzen Kreise der Bekannten als Musterkind, was das Herz Helenens einerseits mit Dank gegen Gott, andrerseits aber auch mit Dank gegen Hamburg erfüllte, denn zu den Gaben der Natur, die der Himmel hier so sichtlich verliehen, war auch noch eine Mustererziehung hinzugekommen, wie sie eben nur die Hamburger Tradition geben konnte.“

Jenny Treibel erkennt und akzeptiert im Hamburgischen den noch etwas höheren, feineren Stand als den in Berlin erreichbaren. Dadurch wird Hildegard zu der Corinna überlegenen Schwiegertochter-option. Aber auch in Hamburg bei den Mundts ist man sich der eigenen Überlegenheit bewusst:

Helene aber fuhr fort: »Die Munks sind ursprünglich dänisch, und ein Zweig, wie du recht gut weißt, ist unter König Christian gegraft worden. Als Hamburgerin und Tochter einer Freien Stadt will ich nicht viel davon machen, aber (…) unsre Schiffe gingen schon nach Messina, als deine Mutter noch in dem Apfelsinenladen spielte, draus dein Vater sie hervorgeholt hat. Material- und Kolonialwaren. Ihr nennt das hier auch Kaufmann… ich sage nicht du…, aber Kaufmann und Kaufmann ist ein Unterschied.«

Die Ahnen, die Villa, das Boot, die Selbstwahrnehmung und erst recht das Selbstvertrauen: alles ist in Hamburg ein gutes Stück nobler als in Berlin. Jenny Treibel spürt es und weist auch ihrem zweiten Sohn Leopold erfolgreich den Weg nach oben. Da es ihren Zielen dient, macht sie sich selbst und Berlin im Umgang mit den Hamburgerinnen klein und schreibt der Wunschschwiegertochter:

Ich wüßte wirklich kaum etwas, was vor der Eingebildetheit unserer Bevölkerung sicher wäre. Nicht einmal Euer Hamburg, an das ich nicht denken kann, ohne daß mir das Herz lacht. Ach, Eure herrliche Buten-Alster! Und wenn dann abends die Lichter und die Sterne darin flimmern – ein AnFontanes Werk mit blick, der den, der sich seiner freuen darf, jedesmal dem Irdischen wie entrückt.“

Das Ränkespiel versteht Jenny besser als alles andere im Leben. Der Coup gelingt: Corinna trennt sich von Leopold.  Dessen Verlobung mit der Hamburger Hildegard steht nun kurz bevor, und auch Corinna hat ihren – standesgemäß korrekten – Cousin Marcel bereits erhört. Jenny Treibel singt bilanzierend am Ende das Lied, das Corinnas Vater ihr in ihrer Jugend gedichtet hat: „…Ach, nur das, nur das ist Leben, Wo sich Herz zum Herzen find´t.“

Humor hilft

Die Großzügigkeit und spöttische Milde, mit der Fontane seine Romanheldin trotz ihres Ränkespiels und ihrem allzu freien Umgang mit der Wahrheit zeichnet, hat er für sein Hamburger Personal nicht übrig. Ihr Vorsprung an „Gewaschenheit“ hilft da nichts. Ihnen fehlt der Charme der Engländer und die energische Bodenhaftung der Berliner, die sie – meist unfreiwillig – auch dann zeigen, wenn sie eiligst nach Oben streben. Die Begründung für Fontanes Einschätzung der Hamburger kann einerseits darin liegen, dass er sich nie länger in der „schönsten Stadt der Welt“ (Hamburgische Selbsteinschätzung) aufgehalten hat. Oder an seinem Hauslehrer. Von diesem berichtet er in „Meine Kinderjahre“: „(…) zugleich aber gab ihm sein Hamburgertum, sein Vertrautsein mit den Formen einer wirklich reichen und vornehmen Kaufmannswelt, ein bis zu Dünkel und Unart sich steigerndes Selbst- und Überlegenheitsgefühl, das ihm von Anfang an seine Stellung verdarb.“ Was die Schule nicht alles verderben kann! Dennoch gibt es auch in anderen Werken Theodor Fontanes viel Menschenkenntnis und augenzwinkernden Schulterschluss mit den untiefen Seiten des Menschseins (wieder) zu entdecken. Über die Aktualität einiger seiner Bücher wird auch im neuen Jahr mit Sicherheit noch gestritten. Bilanzen sind stets nur vorläufiger Natur, denn die Nachlebenden ändern immer wieder die Kriterien.

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