08.08.2024 | Allgemein, Geduld, Gesellschaft, Gesundheit, Kommunikation, Literatur, Psychologie
Theodor Fontane schrieb ein Gedicht gegen eine Entwicklung, die wir für besonders aktuell halten: den Alarmismus. Oft wird ein doppelbödige Satz, ein Augenzwinkern, eine scheinbar naive Anmerkung zum Auslöser großer und größte Aufgeregtheit. Die neuen Medien sind die Werkzeuge, die für eine echtzeitnahe Verbreitung sorgen. Nachfragen oder abklären kann man später. Zunächst sollte man sich aufregen. Erregungsbereitschaft als Pflicht für den moderne Zeitgenossen.
Wie gesagt: Fontane hatte von diesen Entwicklungen keine Ahnung. Und doch muss es zu seiner Zeit etwas gegeben haben, was bei ihm eine dichterische Reaktion auslöste, die auch heute noch ausgesprochen passend zum Zeitgeist wirkt – zumindet für mich.
Theodor Fontane, 1883 gemal von Carl Breitbach
Überlaß es der Zeit
Erscheint Dir etwas unerhört,
Bist du tiefen Herzens empört,
Bäume nicht auf, versuchs micht mit Streit,
Berühr es nicht, überlaß es der Zeit.
Am ersten Tag wirst du feige dich schelten,
Am zweiten läßt du dein Schweigen schon gelten,
Am dritten hat du´s überwunden;
Alles ist wichtig nur für Stunden,
Ärger ist Zehrer und Lebensvergifter,
Zeit ist Balsam und Friedensstifter.
23.07.2024 | Allgemein, Alter, Philosophie, Tod, Zukunft
Was Seneca uns zum Altern zu sagen hat.
Ein Großteil der aktuellen Diskussion um das Älterwerden beschäftigt sich mit dem Hinauszögern von Hinfälligkeit und Tod. Lebensverängerung ist gefragt. Lustigkeit wie in den frühen Jahren gilt als ein zentraler Beschäftigungswunsch für die späten Jahre. Da ja nun jeder (zumindest in einigen Gebieten) seines Alters Schmied ist, könnte Senecas gänzlich andere Auffassung über den letzten Lebensabschnitt für „Abweichler“ von der gängigen Wir-wollen-immer-hübsch-und-jung-bleiben-Haltung anregend sein.
Seneca im Halbportrait (Antikensammlung Berlin)
So schreibt er in seinem 12. Brief an seinen jüngeren Freund Lucilius:
„Jedes Vergnügen hebt seine größten Freuden bis zum Schluss auf. Die Zeit des Lebens, die das größte Vergnügen bietet, ist das Alter, in dem die Abwärtsbewegung – nicht der steile Abstieg – bereits begonnen hat; und meiner Meinung nach hat auch das Alter, das an der Schwelle des Todes steht, seine eigenen Freuden – oder die Tatsache, sich nicht mehr nach irgendwelchen Vergnügungen zu sehnen, tritt an deren Stelle. Wie schön ist es, wenn man seine Begierden überwunden und hinter sich gelassen hat!“
Diese Zeilen finden sich auf S. 71 in in dem Buch Seneca – Briefe an Lucilius, erschienen im Finanzbuchverlag München 2023
01.07.2024 | Allgemein
Die Fortschritte in Forschung und ärztlicher Behandlung führen zu einer steigenden Langlebigkeit.
Ist es ein Glück, 1000 zu werden?
Auch wenn man es kaum glauben mag: Die Hundertjährigen sind die am schnellsten wachsende Gruppe der Weltbevölkerung. Das heißt, dass diese Veränderung nicht nur den „entwickelten Ländern“ vorbehalten bleibt, sondern auch „unterentwickelte Länder“ tragen ihr Scherflein zu dieser Dynamik bei. Seit den 1970er-Jahren verdoppelt sich die Zahl der Hunderjährigen etwa alle zehn Jahre – wesentlich schneller als die Weltbevölkerung insgesamt wächst.
17.05.2024 | Allgemein, Alter, Arbeitswelt, Humor, Literatur, Philosophie, Tod
…oder aus ihrem Zitatenschatz: „Die Kunst besteht darin, jung zu sterben, das aber so spät wie möglich.“ (Reinhard Wandtner).
Vielleicht ist auch dies Zitat, das in leicht verwandelter Form seit jeher das Leitmotiv dieses Blogs bildet, der Grund für die folgende, etwas überschwängliche Rezension…
Schon auf dem Titelbild zeigt sich: es geht hier um die Fülle des Lebens. Das Alter ist für die Autorin kein grauer Wartesaal, in dem man ergeben verweilt, bis Charon einen mit seinem Boot ins Reich der Toten übersetzt.
Zwischen Schlangen und Blumen: das Altern
Das Alter ist auch nicht nur eine Zeit der Erinnerungsübungen an das süße Früher. Nein, Elke Heidenreich schreibt eine Art Bilanz, ungeschönt, getrieben vom Drang, sich nochmal darüber klar zu werden, was es war, das eigene Leben. Und was es für die nächste Zeit sein könnte. Klar, dass Sie als erfolgreiche Autorin und Kritikerin ihr Leben nicht ohne Unterstützung der Literatur befragt.
Hilfe, starke Hilfe findet sie bei den Autoren/innen, die sich heutzutage, in zurückliegenden Jahrzehnten oder vor 2000 Jahren mit Altern und Tod beschäftigt haben. Natalia Ginzburg, Truman Capote, Marguerite Duras, Cicero, Goethe usw. So kommen wir in den Genuss, quasi nebenbei zu erfahren, was große Denker und Schreiberinnen über Alter und Tod dachten (Die Reihe der Zitierten ist erheblich länger als oben angedeutet). Neben Heidenreichs eigenen Gedanken lesen wir auch Dialoge zwischen ihr und den vielen klugen Bewohnern ihrer Bücherwände. Mal mit Zustimmung, mal mit Widerrede, mal mit „kann man so sehen.“
Schon nach wenigen Seiten kann man festhalten:
- Sie betrachtet das Alter nicht als zu versteckende Lebensetappe, sondern als einen Abschnitt mit Vor- und Nachteilen unter den anderen, die unser Leben zu einem Ganzen fügen. Allerdings überwiegen für sie im Alter die Vorteile.
- Sie hält vom momentanen Selbstoptimierungswahn genauso wenig wie von den Ich-kann-mit-meinem-Alter-nicht-umgehen-Leuten. Diese sind hier ihr Lieblingsfeindbild.
Ob Botox-Adepten oder Ernährungsasketen: alle bekommen in diesem Buch auf höchst amüsante Weise den Marsch geblasen. Das geht dann bei ihr so: „Ich finde die alten, ja: die vom Leben verwüsteten Gesichter von Jeanne Moreau oder Louise Bourgeois wunderschön, sie erzählen von prall gefülltem Leben sehr viel mehr als die Gesichter von Frauen mit prall gefüllten Botoxwangen.“
So wunderbar treffende (auch bösartige) Formulierungen finden sich alle paar Seiten, so über den gealterten Popstar Madonna Louise Ciccone: „Madonna zum Beispiel sieht jetzt aus wie irgendwas an Halloween!“ Auch Kim Kardashian und die Geissens, aus dem Privat-TV, bekommen ihr Fett weg.
Natürlich gibt es dann auch Belege gegen den herrschenden Selbstoptimierungswahn. So zitiert die Autorin Keith Richards (Rolling Stones) mit den Worten: „Ein Mittag- oder Abendessen ohne ein Glas Wein ist lächerlich.“ Und nickt zufrieden dazu: „Sag ich doch.“
Ihre Dynamik ist wohl dafür verantwortlich, dass das Leben ihr jüngere Partner und jüngere Freundinnen an die Seite stellt. 80 Jahre ist sie laut Pass. Aber wie HIER beschrieben, kann das subjektive Alter abweichen. Elke Heidenreich erscheint entschieden jünger. Ihrer eigenen Wahrnehmung nach sogar glatte 20 Jahre. Als Zuschauer ihrer SPIEGEL-Buchrezensionen oder als Leser hat man den Eindruck: sie hat vielleicht recht.
Vorteile hin, Vorteile her, Heidenreich betreibt keine Heroisierung des Alters. Sie verhandelt Liebeskummer, Altersdiskriminierung und teilweise Verzweiflung an der Digitalisierung von fast allem; hier der Unmöglichkeit eine Museumskarte ohne Handy zu ergattern. Womit sie jedoch gar nichts anzufangen weiß, ist den letzte Lebensabschnitt auf der Parkbank oder dem Ruhekissen zu verbringen. Jenen, die nach Einstieg in Rente und Pension vom Nichtstun träumen, hält sie entgegen: „Nichtstun macht nur Sinn als Gegensatz von Tun. Wenn ich nichts mehr tue, wozu bin ich dann noch da?“ Hier kann man einwerfen, dass nicht alle mit einem so befriedigenden Job wie den einer erfolgreichen Schriftstellerin gesegnet sind. Aber man könnte sich ja auch jetzt – nach dem Ende der Lohnarbeitszeit – einer neuen, einen mehr begeisternden Aufgabe widmen. Ich glaube, zu diesem Gedanken würde die Autorin durchaus gnädig nicken.
In Summe zeigt sich Elke Heidenreich in diesem Buch als großartige Mutmacherin. Sie ist 80 Jahre. Sie weiß, wovon sie spricht, aber sie schreibt im Geiste Martin Luthers (den sie nicht zitiert), der gesagt haben soll: „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen“.
Gerade in unserer nölig-miesepetrigen Zeit kann man ihre folgenden Zeilen als Aufruf lesen, sich mal ein bisschen zusammenzureißen: „In einem Land zu leben, das fast während meines gesamten Lebens vom Krieg verschont war, auch das ist Glück. Ein großes, das größte Glück.“
Sollte Elke Heidenreich an den Punkt gelangen, über ihre eigene Grabsteinaufschrift nachzudenken, könnte sie sich bei Henry Beyle, alias Stendhal, bedienen: visse, scrisse, amasse; also: ich lebte, ich liebte, ich schrieb. Es würde zu ihr passen.
Ich verspreche Ihnen: die Lektüre dieses Buches wird Sie bereichern. Sie werden sich weitere Werke leihen oder kaufen, die sich auf den Bücherregalen von Elke Heidenreich finden. Ich bin mir dessen sicher!
Elke Heidenreich: Altern
Hanser Berlin, 2024
20,00 €
Nachdem das Buch ein großer Erfolg beschieden ist, äussert sie sich auch in einem Interview zum Thema:
02.05.2024 | Allgemein, Demographie, Psychologie, Wissenschaft, Wohlbefinden
Sicherlich gibt es verschiedene wissenschaftliche Ansätze, um diese Frage sauber begründet beantworten zu können. Aber sie unterscheiden sich und sind insofern nur für Studienlektürebegeisterte von Interesse.
Valider zu beantworten ist die Frage, ab wann die „Betroffenen“ sich selbst als „alt“ empfinden.
Eine Studie von Wissenschaftlern der Humboldt-Universität zu Berlin, der Stanford-Universität, der Universität Luxemburg und der Universität Greifswald basiert auf Daten des Deutschen Alterssurvey (DEAS), einer bundesweit repräsentativen Befragung von Personen, die 40 Jahre und älter sind.
Das Ergebnis: Da wir Heutigen länger leben, schieben wir den Beginn des Alters entsprechend weiter nach hinten. Das heißt konkret, dass die heute 65-jährigen Männer das Altsein mit 75 beginnen lassen. Frühere Generationen sahen den Beginn bei 71 Jahren.
Die noch immer länger lebenden Frauen geben noch zwei weitere Jahre obendrauf.
Bild: Artyom-Kabajev auf unsplash
Die dazu passenden Zahlen des Statistischen Bundesamt (Destatis) sagen: 65-jährige Männer hatten in den Jahren 1901 bis 1910 im Schnitt noch rund zehn Jahre zu leben, gleichaltrige Frauen rund elf Jahre. In den Jahren 2019 bis 2021 waren es bei Männern 17,8 Jahre, bei Frauen rund 21.
Interessant ist, dass die Forschenden bei den Frauen nicht nur die gegebene längere Lebensdauer als Begründung für die Antworten sehen. Darüber hinaus könnte auch die größere Stigmatisierung des Alters bei Frauen ein Grund für den gefühlt späteren „Altersbeginn“ verantwortlich sein. Demnach ist es für Frauen noch immer härter, als alt zu gelten als für Männer. Hier bleibt gesellschaftlich, aber auch individuell noch einiges zu tun.
18.04.2024 | Allgemein, Freunde, Kunst, Literatur, Sprache
Das Altern bringt es mit sich, dass man hin und wieder Menschen trifft, deren Abwesenheit man über Jahrzehnte hinweg nie bedauert hat. Die Gemeinsamkeiten – oder besser: die gemeinsamen Zeiten – liegen hinter einem Horizont, vor welchem viele geliebte und liebenswerte Menschen unser Leben bereichert haben und bereichern. Welche Gestalten aus dem „davor“ haben etwas zu bieten, außer dass sie – wie wir – noch leben? Wir sind uns nur auf einem kleinen Stück des frühen Lebenswegs häufiger begegnet. Das macht solche Begegnungen im besten Fall interessant. Im Regelfall mühsam.
Schriftstellerin Wisława Szymborska bei der Nobelpreisverleihung 1996. (© AP)
Viel schöner beschreibt dies die wunderbare polnische Dichterin Wislawa Szymborska unter dem Titel
Überraschendes Wiedersehen
Wir begegnen einander höflich,
behaupten: wie nett, sich nach Jahren wiederzusehen.
Unsere Tiger trinken Milch.
Unsere Habichte laufen zu Fuß.
Unsere Haie ertrinken im Wasser.
Unsere Wölfe gähnen vor dem offenen Käfig.
Unsere Schlangen haben sich freigeschüttelt von Blitz,
Affen von Einfällen, Pfauen von Federn.
Die Fledermäuse sind längst aus unseren Haaren geflüchtet.
Wir verstummen mitten im Satz,
rettungslos lächelnd.
Unsereiner hat sich
nichts mehr zu sagen.
Und doch: machmal gibt es Wiederbegenungen, die einem Neuanfang auf erkundetem Gelände ähneln. Man sollte sich die Chance geben.