Bilanz 200
Zum Jahresende neigt man – genau wie gen Lebensende – zum Bilanzziehen. Meist ohne wirklich zukunftsstiftenden Ertrag. Dennoch: den 31. Dezember als Jahresbilanztag will ich nutzen, um einen großen Jubilar, Theodor Fontane, ein wenig zu befragen. Nein, so richtig altersrelevant ist dieser Beitrag nicht, aber für den einen oder die andere literaturinteressierte/n Leser/in vielleicht doch zumindest unterhaltsam…
Wie Theodor Fontane die Hamburger sah
2019 ist ein Fontane-Jahr! 200 wäre der dichtende Apotheker in diesem Dezember geworden. Fontane? Das ist doch der mit den Birnen von Ribbeck? Und Balladen hat er auch geschrieben. Ja, mancher stellt seine Effi Briest neben Flauberts Emma Bovary als Ikone der um Selbstbestimmung ringenden Frauen des 19. Jahrhunderts. Aber sonst? Die Breite und Tiefe seines Werkes ist der kollektiven Erinnerung verloren gegangen.
Vielleicht hilft der runde Geburtstag, diesen freundlichen Menschenbeobachter, diesen Kritiker rückwärtsgewandten Ständedenkens mit seiner ironisch fein geführter Feder, diesen Verfechter demokratischer Menschenrechte und Spötter des billigen Pompkapitalismus der Gründerjahre neu zu entdecken. Zwar liegt Theodor Fontanes Geburtsort näher an Berlin als an Hamburg. Aber dennoch kann man sich fragen, was der weltläufige Fontane von Hamburg und den Hanseaten gehalten haben mag?
Nach seinem Abschied von der Apothekerlaufbahn wendete Fontane sich dem Journalismus zu. So arbeitete er unter anderem jahrelang in England, wo er für mehrere Blätter sowohl Politisches als auch Kulturelles aus London und anderen Teilen der Insel berichtete. Wenigstens zwei seiner Reisen zur Themsestadt führten ihn über Hamburg. Mehr als eine kurze Angabe zur Reiseroute und ein paar Eindrücke einer maritimen Abschiedsszene ist ihm das Ganze aber nicht wert. Allerdings lässt er sich auch über die anderen deutschen Städte und Landschaften nur selten aus. Fontane interessierte sich vor allem für seine nähere und nächste Umgebung, also Brandenburg und Berlin, und für das damals noch fast exotisch Ferne. Seinen Ruf als Reiseschriftsteller verdankt er seinen Betrachtungen in England und Schottland („Jenseits des Tweed“) sowie dem Bericht über seine irrtümliche Festnahme als vermeintlich preußischer Spion. Mehrere Monate saß er auf der Insel Oléron nahe La Rochelle in Südwestfrankreich in Haft.
Nur beiläufig findet Hamburg in seinem heute wohl bekanntesten Roman „Effi Briest“ Erwähnung: Das Paar kehrte aus Dänemark über „Flensburg, Kiel über Hamburg (das ihnen ungemein gefiel) in die Heimat zurück“. Nur eine Landmarke mit einer kurzen Bemerkung. In seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ stolperte er einmal – und wirklich nur einmal – über eine Hamburgensie, ein Erzeugnis der alten Hamburger Glockengießerkunst: „Das bemerkenswerteste, was der Garziner Kirche geblieben, ist seine 1654 in Hamburg gegossene Glocke. Dieselbe ist einerseits durch ein tellergroßes, in die Glockenwandung eingeschmolzenes Medaillon, das »Urteil des Paris« darstellend, andererseits durch ihre plattdeutschen Inschriften interessant. Diese sind freilich nur zum Teil verständlich. Die untere, einreihige Inschrift lautet: »Gegaten tho Hamborch Anno Domini 1654 Junius.«“ Also ein dokumentarisches Detail, weiter nichts. Bleibt nachzutragen, dass Garzin inmitten der Märkischen Schweiz östlich von Berlin gelegen ist.
Jahrzehnte nach seinen Englandreisen notiert er in einem Brief an seinen langjährigen Freund Georg Friedländer: „Hamburg, in seiner das aesthetische Gefühl befriedigenden Erscheinung, ist vielleicht allen anderen modernen Handelsstätten überlegen, selbst London nicht ausgenommen.“ Auch hier der nüchterne Tonfall distanzierter Dokumentation. Emotionaler gibt er sich in einem Schreiben an seine Frau Emilie: „Hamburg ist uns an Gewaschenheit und Sauberkeit immer noch voraus, aber dafür fehlt jedoch vieles, vieles andere.“
Frau Jenny Treibel
Dieses offensichtlich fehlende Andere lässt er in einem seiner sogenannten „Berliner“ oder auch „Gesellschaftsroman“ genannten Werke eine bedeutende Rolle spielen. Allerdings ohne auszuformulieren, was denn nun Hamburg oder den Hamburgern fehlt. Die Rede ist von „Frau Jenny Treibel oder wo sich Herz zum Herzen find´t“. Der Zweit- oder Untertitel macht schon deutlich, dass Fontane bewusst mit zumindest zwei Lesarten spielte: zunächst drängt sich eine Liebesschmonzette auf, die man in der Gartenlaube hätte lesen können. Einer Heftchenrevue des 19. Jahrhunderts, die heute im Kiosk zwischen Goldenem Blatt und Der Bergdoktor einsortiert wäre. Unter dieser geradezu billig-bieder wirkenden Oberfläche skizziert Fontane mit Ironie und lakonischer Menschenliebe das Gesellschaftspersonal der Berliner Gründerjahre: Kommerzienrat und Fabrikant Treibel ist ein honoriger Erfolgsmensch aus der Oberklasse. Er lässt die Schornsteine seiner Fabrik einfach immer weiter hochmauern, wenn deren Qualm in den Garten seiner nahgelegenen Villa pustet. Jenny Treibel, seine Gattin, stammt aus einfachen Verhältnissen. Sie hat aufwärts geheiratet. Fontane schenkt ihr den Mädchennamen „Bürstenbinder“ und bewegt sich mit dieser sprechenden Namensgebung auf Thomas-Mannschen Höhen. Majorin von Ziegenhals und Edwine von Bomst bleiben nicht hinter ihren Namen zurück. Treibels stehen – in unterschiedlicher Ausprägung – für die von Fontane belächelte Berliner Bourgeoisie. Dünkel ohne Herzensbildung; vorgebliche Jovialität bei knallharte Heiratspolitik; schönrednerisch verbrämter Klassenegoismus. Durch Jenny Treibels kommerzienrätliches Gehabe scheint hin und wieder blanke Dreistigkeit hindurch. Ihre Antagonisten sind Professor Willibald Schmidt (ein Freund Jenny Treibels aus Kindertagen) und seine selbstbewusste, modern erzogene Tochter Corinna. Beide gebildet, aufgeschlossen, dem Neuen zugewandt, aber finanziell nicht auf Treibelschem Niveau. Um diese Kerngruppe arrangieren sich nähere und entferntere Familienangehörige und Freunde, die durch ihre Auftritte in banalen Alltagssituationen den Lesern multiple Perspektiven auf das charakterliche Inventar der Hauptfiguren erlauben. Die Charakterkomödie ist komplett. Und die Hamburger? Sie entpuppen sich als Jennys Geheimwaffe. Die Professorentochter Corinna hat Aufstiegsambitionen in die gesellschaftliche Belle Etage. Eine Ehe mit Jennys etwas zurückgebliebenem Sohn Leopold wäre für sie die Überholspur nach Oben. Corinna angelt erfolgreich, und als die beiden gegen allen Anstand ihre Verlobung bekannt geben, ist Gefahr in Verzug. Jennys älterer Sohn Otto ist mit Helene Mundt aus Hamburg verheiratet. Diese Schwiegertochter Helene hat eine noch nicht verheiratete Schwester Hildegard. Jenny erläutert ihrem Gatten ihre Ränkestrategie:
„Otto lebt seit acht Jahren in einer glücklichen Ehe mit Helenen, was auch nur natürlich ist; ich kann mich nicht entsinnen, daß irgendwer aus meiner Bekanntschaft mit einer Hamburgerin in einer unglücklichen Ehe gelebt hätte. Sie sind alle so zweifelsohne, haben innerlich und äußerlich so was ungewöhnlich Gewaschenes (…). Man hat sich ihrer nie zu schämen, und ihrem zwar bestrittenen, aber im stillen immer gehegten Herzenswunsche, ›für eine Engländerin gehalten zu werden‹, diesem Ideale kommen sie meistens sehr nah.“
Dass dies kein Zufall ist, sondern Methode hat, erkennt Jenny an ihrer Hamburger Enkelin:
„ Lizzi galt im ganzen Kreise der Bekannten als Musterkind, was das Herz Helenens einerseits mit Dank gegen Gott, andrerseits aber auch mit Dank gegen Hamburg erfüllte, denn zu den Gaben der Natur, die der Himmel hier so sichtlich verliehen, war auch noch eine Mustererziehung hinzugekommen, wie sie eben nur die Hamburger Tradition geben konnte.“
Jenny Treibel erkennt und akzeptiert im Hamburgischen den noch etwas höheren, feineren Stand als den in Berlin erreichbaren. Dadurch wird Hildegard zu der Corinna überlegenen Schwiegertochter-option. Aber auch in Hamburg bei den Mundts ist man sich der eigenen Überlegenheit bewusst:
„Helene aber fuhr fort: »Die Munks sind ursprünglich dänisch, und ein Zweig, wie du recht gut weißt, ist unter König Christian gegraft worden. Als Hamburgerin und Tochter einer Freien Stadt will ich nicht viel davon machen, aber (…) unsre Schiffe gingen schon nach Messina, als deine Mutter noch in dem Apfelsinenladen spielte, draus dein Vater sie hervorgeholt hat. Material- und Kolonialwaren. Ihr nennt das hier auch Kaufmann… ich sage nicht du…, aber Kaufmann und Kaufmann ist ein Unterschied.«
Die Ahnen, die Villa, das Boot, die Selbstwahrnehmung und erst recht das Selbstvertrauen: alles ist in Hamburg ein gutes Stück nobler als in Berlin. Jenny Treibel spürt es und weist auch ihrem zweiten Sohn Leopold erfolgreich den Weg nach oben. Da es ihren Zielen dient, macht sie sich selbst und Berlin im Umgang mit den Hamburgerinnen klein und schreibt der Wunschschwiegertochter:
„Ich wüßte wirklich kaum etwas, was vor der Eingebildetheit unserer Bevölkerung sicher wäre. Nicht einmal Euer Hamburg, an das ich nicht denken kann, ohne daß mir das Herz lacht. Ach, Eure herrliche Buten-Alster! Und wenn dann abends die Lichter und die Sterne darin flimmern – ein AnFontanes Werk mit blick, der den, der sich seiner freuen darf, jedesmal dem Irdischen wie entrückt.“
Das Ränkespiel versteht Jenny besser als alles andere im Leben. Der Coup gelingt: Corinna trennt sich von Leopold. Dessen Verlobung mit der Hamburger Hildegard steht nun kurz bevor, und auch Corinna hat ihren – standesgemäß korrekten – Cousin Marcel bereits erhört. Jenny Treibel singt bilanzierend am Ende das Lied, das Corinnas Vater ihr in ihrer Jugend gedichtet hat: „…Ach, nur das, nur das ist Leben, Wo sich Herz zum Herzen find´t.“
Humor hilft
Die Großzügigkeit und spöttische Milde, mit der Fontane seine Romanheldin trotz ihres Ränkespiels und ihrem allzu freien Umgang mit der Wahrheit zeichnet, hat er für sein Hamburger Personal nicht übrig. Ihr Vorsprung an „Gewaschenheit“ hilft da nichts. Ihnen fehlt der Charme der Engländer und die energische Bodenhaftung der Berliner, die sie – meist unfreiwillig – auch dann zeigen, wenn sie eiligst nach Oben streben. Die Begründung für Fontanes Einschätzung der Hamburger kann einerseits darin liegen, dass er sich nie länger in der „schönsten Stadt der Welt“ (Hamburgische Selbsteinschätzung) aufgehalten hat. Oder an seinem Hauslehrer. Von diesem berichtet er in „Meine Kinderjahre“: „(…) zugleich aber gab ihm sein Hamburgertum, sein Vertrautsein mit den Formen einer wirklich reichen und vornehmen Kaufmannswelt, ein bis zu Dünkel und Unart sich steigerndes Selbst- und Überlegenheitsgefühl, das ihm von Anfang an seine Stellung verdarb.“ Was die Schule nicht alles verderben kann! Dennoch gibt es auch in anderen Werken Theodor Fontanes viel Menschenkenntnis und augenzwinkernden Schulterschluss mit den untiefen Seiten des Menschseins (wieder) zu entdecken. Über die Aktualität einiger seiner Bücher wird auch im neuen Jahr mit Sicherheit noch gestritten. Bilanzen sind stets nur vorläufiger Natur, denn die Nachlebenden ändern immer wieder die Kriterien.