Das Tempo der Lebenszeit

Mit Blick in unsere Geburtsurkunde finden wir unser objektives Alter. Dazu kommt ein subjektiver Blick auf sich selbst und andere, die sich zum Vergleich anbieten. Oft hält man sich für jünger, manchmal auch für älter. Schulklassentreffen warten immer wieder mit dem selben Phänomen auf: wo früher maximal drei Jahre Altersunterschied herrschten, weitet sich die Skala beim ersten Hingucken auf gut 15 Jahre. Bei manchem rinnt die Lebenszeit schneller aus dem Stundenglas.

Natürlich wissen wir, dass Schicksalsschläge, aber eben auch unsere Lebensweise die Fliessgeschwindigkeit dieses Stundenglaes durchaus beeinflussen können. Nun hat die AOK einen Fragebogen ins Netz gestellt, der einem sein „wirkliches Alter“, also nicht das von der Geburtsurkunde, verrät. Interessant sind die Fragen, die die Gesundheitsstatistiker herausgesucht haben, um ein Tachometer für die Ablaufgeschwindigkeit unseres Lebens zu „konstruieren“. Gucken Sie doch mal rein.

Jugend, Alter, Zauber: Roger Hodgson in der Alten Oper zu Frankfurt a. M.

Durch den Winterregen strömen die Menschen zum imposanten Musentempel am Opernplatz: Pärchen um die 60, Kleingruppen zu viert oder fünft. Kein Schlips, keine Lederjacken, keine langen Kleider, keine bunten Netzstrumpfhosen. Freundlich unscheinbare Menschen aus der Mitte der Gesellschaft. Weißliche Dampfwolken umgeben die Raucher auf den Stufen vor dem Einlass. Gemächlich geht es die Treppen aufwärts. Im haltlos verkorksten, kantinenhaften Interieur des Wartesaals werden Sektchen, Weine und ein paar Flaschen Bier zum entspannten Warten genommen. Es ist voll. Laut Internet gab es noch eine einzige Karte. 70 Euro für einen Platz mittlerer Güte bilden ein natürliches Selektionsmittel, da spielen die Getränkepreise auch keine Rolle mehr. 90% des Publikums gehört dem erweiterten Generationskreis der Baby Boomer an. Als Roger Hodgson und Supertramp 1979 Breakfast in America, das erfolgreichste Album dieser Mainstream Popband veröffentlichten, waren die meisten Konzertbesucher also zwischen 10 und 30 Jahre alt. Diese Platte markiert den Zenit der Band. Auch wenn es später noch zwei, drei Songs gab, die es in die oberen Lagen der Charts schafften, war der Kernbestand an Liedern, mit denen Supertramp auf bedingte Ewigkeit hin assoziiert wird, bereits geschrieben. Zuallermeist von Roger Hodgson, dem Herz und Hirn der Band, komponiert – auch wenn Rick Davies einige Songs und Richard Palmer die meisten Texte für sich reklamieren kann. Hodgsons Falsettstimme wurde mit den Jahren immer mehr zum Erkennungszeichen von Supertramp. 1984 begann er seine Solokarriere, während Supertramp nach einem Schwenk in Richtung Jazz, Rock und R&B ohne große neue Erfolge weiter tourte. Die schöpferische Phase war abgeschlossen. Hodgson und Supertramp gingen getrennte Wege, verwalteten parallel den kreativen Kernbestand ihrer früheren Jahre.

Immer mal wieder eine alte Platte aufzulegen, macht Spaß – egal ob Bach, Miles Davis oder eben Supertramp. Aber jemanden live zu betrachten, der nun seit gut 30 Jahren seine früheren Ideen vorführt? Weniger Vorfreude als Unwohlsein bestimmt meine Gefühlswelt beim Eintritt in den schüsselhaften Saal. Ein musikalischer Hamster im Rad? Ein Zombie, der die Schöpfungskraft seiner ersten 30 Jahre immer wieder neu gegen die Anfeindungen der Zeitläufte in Stellung bringt? Ein idealistischer Meister, der sich und sein Publikum mit musikalisch beliebig reproduzierbaren Jugendgefühlen die Tür in eine stets bessere Welt öffnet? Der Abend wird es erweisen. Vielleicht.

Ein übersichtliches, fast bescheidenes Bühnenarrangement: zwei bambusähnliche Hecken im Hintergrund von wechselnden Lutschbonbonfarben beleuchtet. So stellt man sich den Innenraum eines Thai-Massagesalons in Unna oder Bad Schandau vor. Hinten – schön symmetrisch – Keyborder und Drummer, zentral vor ihnen der E-Bass, vorne links an der Bühnenrampe der Holzbläser mit Saxophonen, Piccoloflöte und anderem. Vorne rechts ein kleines, mit weißem Hemd und Weste bekleidetes Männchen mit irisierenden Bewegungen am ebenfalls weißen Keybord: Roger Hodgson. Die blonde Struwelmähne, die dünnen Beinchen, ja die ganze zarte Gestalt und der jungenhafte Schwung seiner Bewegungen zeigen auch hier, wie alterslos die Bühne einen halten kann. Ich habe kein Opernglas zur Hand, aber wie 65 sieht er wirklich nicht aus. Es folgen warme, freundliche Worte über Frankfurt und das deutsche Publikum als solchem. Roger ruft Vornamen auf, die ihm im Vorfeld ihre Musikwünsche zugemailt haben. „Oh, you are so shy“, bedauert er, wenn sich keiner meldet. Liebenswert. Das Publikum dankt ihm jede Erläuterung, warum gerade jetzt einer der „Kernbestandsongs“ zu spielen sei. School. Viele stehen auf. In den ersten Reihen gehen die Arme nach oben. Vor mir wiegt sich eine weiße, kurzärmelige Bluse im Takt. Neben ihr schlägt sich – nach einer gewissen Anlauffrist – der zugehörige Partner ohne jedes Rhythmusgefühl die Hände gegen die bejeansten Oberschenkel. Aktivität scheint gefragt. Hat man ja früher doch auch so gemacht. Der Klang von der Bühne ist voll und angenehm laut. Nicht zu viel des Guten. Gleiches gilt für den Scheinwerfereinsatz. Kaum Stroboskop, keine Nebelmaschine. Kein Chichi. Dreamer. Die Smartphonebildschirme wiegen sich im Takt. Feuerzeuge braucht man ja nicht mehr dafür. Die weiße Bluse vor mir ist wieder aufgestanden. Der Partner bleibt sitzen. Man kann es ja auch übertreiben. Nach zwei Stunden Programm und 15 Minuten Zugaben ist der Traum vorbei. Die Stimmung steigt bis ins gediegen Frenetische. Beim abschließenden Ausatmen und Entleeren des Saals sieht man viele Pärchen noch eine Weile in inniger Umarmung verweilen. Die Musik hat sie glücklich gemacht oder sie mit Glücksmomenten in der Vergangenheit kurzgeschlossen. Beseelte Gesichter laufen auf den Stufen abwärts. Der Realität entgegen. Roger Hodgson hat erfolgreich den Peter Pan gegeben. Er, der nicht alternde Junge, hat den allermeisten Besuchern für gut 140 Minuten einen herrlichen Besuch in ihrem persönlichen Neverland ermöglicht. Dafür sollte man eigentlich dankbar sein. Der Gedanke an Kitsch scheint wohl nur bei jenen auf, für die Supertramp noch nie eine Tür ins Zauberland geöffnet hat.

Süd-Kommunen fragen nach

Was wollen die Alten wirklich? Was brauchen sie? Statistische Rückschlüsse aus der Bedürfnislage vorangegangener Generationen dürften eher in die Irre führen. Was tut also eine Stadt, die ihre Gelder bedürfnisgerecht einsetzen will. Sie fragt ihre Bürger. Was in der Schweiz selbstverständlich ist, hat bei uns meist noch das Gschmäckle (wir sind in Baden-Württemberg) vom versuchten Roll-Back staatlicher Initiatven. Karlsruhe, Sindelfingen, Esslingen, Freiburg, Bielefeld, Villingen-Schwenningen, und noch zwei andere Gemeinden befragen nach dem Zufallsprinzip 2.500 ihre Bürger ab 55 nach ihrer Lebenssituation und ihren Wünschen. Es gibt keinen Antwortzwang, aber besser kann man die großen politischen Leitplanken des eigenen Alterns wohl nicht mitbestimmen. Ein Modell, das Schule machen sollte. Die Befragung wird vom Freiburger Forschungsinstitut FIFAS ausgewertet. Es ist anzunehmen, dass sich auch andere Kommunen dort melden könnten, wenn sie ihre Steuergelder korrekt investieren wollen. Hier kann man das nochmal im O-Ton lesen.

Was ist das mit der Würde?

In letzter Zeit gibt es auf den People-Seiten von Zeitschriften oder auch im Netz selbst immer wieder Artikel oder Betroffenheitsstories, die sich um die Formulierung „in Würde altern“ drehen. Was ist wohl damit gemeint? Wenn man die Aussage umdreht und fragt, was denn würdeloses Altern ist, wird es vielleicht ein bisschen einfacher: ich finde es zum beispiel würdelos, wenn sich deutlich alte Herrschaften (das kann jemand von 50 oder von 75 sein, denn die Sichtbarkeit des Altseins beginnt in sehr unterschiedlichem Alter) betont jugendlich geben. Ich meine damit nicht kurze Röckchen oder Hipsterfrisuren, sondern den Versuch, den Habitus von Spätteenagern auszustrahlen. Das erscheint mir würdelos, weil die Erfahrungserrungenschaften, die das Älterwerden mit sich bringt, so einfach negiert werden. Blöd, wenn man alt wird ohne etwas davon zu haben!

Blöd oder würdelos finde ich es allerdings auch, wenn jedes Wehwehchen und jede Einschränkung des alternden Körpers mit Leidensmine in Konversationen jeder Art eingebracht wird. Mein Gott, es könnte doch alles viel schlimmer sein! Es ist doch kein Drama, mit den Fingerspitzen nicht mehr an die Zehen runter zu kommen. Mir erscheint es würdelos, Derartiges zum Thema zu machen. Es gibt auf dieser Welt wahrlich andere Dinge, die der Diskussion wert sind.

Hieraus ergibt sich zumindest für mich, dass es sich bei der „Würde im Alter“ wohl um eine Mischung aus Disziplin und Fatalismus handelt.

Auch Mehmet wird älter

Im Kontext Zuwanderer oder „Mitbürger mit Migrationshintergrund“ wie es im pc-Deutsch korrekt zu formulieren wäre beschäftigen wir uns vor allem mit Integrationsfragen. Weiterbildung und die Unverträglichkeit einiger kulturellen Prägungen mit unserer Verfassung sind weitere Themen. Aber dass auch Mehmet und Aisha irgendwann nicht mehr arbeiten können, – wie so viele – den Kontakt zur alten Heimat verloren haben und nun hier auf Pflege, Zuwendung und Unterstützung angewiesen sind, ist ein Randthema, das selten gestreift wird. Die Wirklichkeit ist auch hier bereits entschieden fortgeschritten. Ein sehr anschaulicher Bericht in der Schweizer NZZ macht dies sehr nachvollziehbar deutlich. Erstaunlicher Weise beschäftigt sich der Beitrag nur mit deutschen Altenwohngemeinschaften. Hamburg, Berlin und Duismug werden beispielhaft vorgestellt. Hat die Schweiz nicht das gleiche Problem? Egal, der Artikel bietet im besten Sinn Aufklärung zu einem noch im Schatten befindlichen Thema.

Durchsickern in den Alltag – von den Schusterjungs zu Oma und Opa

Durchsickern in den Alltag – von den Schusterjungs zu Oma und Opa

Das Altern der Gesellschaft ist das eine, anhand der Statistik leicht nachvollziehbare Faktum. Das andere, die Entjüngung des kollektiven Bewußtseins, ist nicht breitflächig erkennbar. Lediglich Indizien tauchen hier und dort auf und zeigen – bojengleich – die tieferliegenden Bewußtseinsveränderunen in der Gesellschaft an. Ein frisches Beispiel: in meiner Kindheit in Berlin gab es beim Bäcker noch Schusterjungs, Brötchen, die sich durch irgendeine Zutat oder Zuschnitt von den stadtüblichen Schrippen unterschieden. Ich glaube, sie sind mittlerweile mindestens genaus so selten geworden wie die namensgebenden Jungs, die bei einem Schuhmacher in die Lehre gehen.

IMG_2319
Ein Bäckerbrötchen namens Oma und damit ein Indiz

Bei einem Bäcker in meiner Umgebung entdeckte ich vor kurzem Opa und Oma: zwei helle Brötchensorten, die sich lediglich durch ihre Größe unterscheiden. Eigentlich entdeckte ich sie nicht, sondern hörte sie zunächst. Eine Kundin vor mir bat um „drei Omas und einen Opa.“ Freundlich-selbstverständlich wurde ihr von der Bäckerin die Tüte gefüllt. Eigentlich war ich froh, nur zweimal Bienenstich bestellen zu wollen…

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner